EGMR (Vierte Kammer),
Urt. v. 21.12.1999 – 33290/96 (Fall Salgueiro da Silva Mouta v. Portugal)
Sachverhalt:
Der portugiesische Kläger ist 1961 geboren und lebt seit April 1990 mit
seinem Partner L.G.C. in Queluz in Portugal. Er hatte 1983 geheiratet,
sich im April 1990 von seiner Frau getrennt und ist am 30.09.1993
geschieden worden. Aus dieser Ehe stammt die Tochter M., die am 2.11.1987
geboren wurde. Sie lebt jetzt bei den Eltern der früheren Frau. Das
Sorgerecht hat das Lissabonner Berufungsgericht der früheren Frau
zugesprochen.
Der Kläger behauptet, das sei nur wegen seiner homosexuellen Ausrichtung
geschehen und weil er mit einem Mann zusammenlebe.
Auszugsweise freie Übersetzung der Urteilsgründe:
DAS GESETZ
I. Angebliche Verletzung von Artikel 8 der Konvention, allein
genommen und in Verbindung mit Artikel 14.
21. Der Beschwerdeführer macht geltend, das Lissabonner
Berufungsgericht habe das Sorgerecht über seine Tochter M. nur wegen
seiner sexuellen Orientierung nicht ihm, sondern seiner früheren Frau
zugesprochen. Das verstoße gegen Art. 8 der Konvention, und zwar sowohl
allein genommen als auch in Verbindung mit Art. 14.
Die Regierung widersprach dieser Behauptung.
22. Artikel 8 der Konvention lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und
Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen,
soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche
Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur
Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum
Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und
Freiheiten anderer."
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass das Urteil des
Berufungsgerichts unter Artikel 8 der Konvention subsumiert werden kann,
weil es das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens
beeinträchtigte, indem es das Urteil des Lissabonner Familiengerichts vom
14.07.1994 aufhob, das die elterliche Sorge dem Kläger zugesprochen hatte.
Die Institutionen der Konvention waren der Meinung, dass diese Bestimmung
auch für Entscheidungen gilt, die dem einen oder anderem Elternteil nach
einer Scheidung oder Trennung das Sorgerecht zusprechen (siehe Hoffmann v.
Austria, Urt. v. 23.06.1993, Series A Nr. 255-C, S. 58, Abschnitt 29;
siehe ebenso Irlen v. Germany, Az.. 12246/86, Entscheidung der Kommission
v. 13.07.1987, Decisions and Reports 53, S. 225).
Dem steht der Einwand der Regierung nicht entgegen, dass das Urteil des
Berufungsgerichts nicht von der Übereinkunft der Eltern vom 07.07.1991
abgewichen sei, so dass die Rechte von Herrn Salgueiro da Silva Mouta
nicht beeinträchtigt worden seien. Der Gerichtshof stellt in diesem
Zusammenhang fest, dass das Lissabonner Berufungsgericht unter anderem
nicht berücksichtigt hat, dass die frühere Frau des Beschwerdeführers sich
nicht an die Vereinbarung gehalten hat (siehe oben Abschnitt 11).
A. Angebliche Verletzung von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14
23. Der Gerichtshof hält es angesichts der Natur des Falles und der
Einwände des Beschwerdeführers für angebracht, den Fall zunächst im
Hinblick auf Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 zu überprüfen, welcher
lautet:
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und
Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des
Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der
politischen oder sonstigen Anschauungen, der nationalen oder sozialen
Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des
Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewähren."
24. Herr Salgueiro da Silva Mouta hat von Anfang an betont, er habe
niemals bestritten, dass das Wohl seiner Tochter vorgehe. Eine
Grundbedingung dafür sei aber, das sie die Möglichkeit habe, ihren Vater
zu sehen und mit ihm zu leben. Aber weil das Berufungsgericht das
Sorgerecht nur wegen der sexuellen Ausrichtung des Vaters auf die Mutter
übertragen habe, stelle das einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in
sein Recht auf Achtung seines Familienlebens dar. Der Beschwerdeführer
macht geltend, dass dieser Beschluss auf atavistischen Missdeutungen
beruhe, die mit den Wirklichkeiten des Lebens oder des gesunden
Menschenverstands nicht zu vereinbaren seien. Dadurch habe das
Berufungsgericht, so meint er, gegen Artikel 14 der Konvention verstoßen.
Der Beschwerdeführer weist außerdem daraufhin, dass das
erstinstanzliche Gericht zu seinen Gunsten entschieden habe. Es habe als
einziges die Tatsachen unmittelbar gekannt, während das Berufungsgericht
nur aufgrund eines schriftlichen Verfahrens entschieden habe.
25. Die Regierung räumt ein, dass Art. 8 auf den Fall anwendbar sein
könnte, aber nur hinsichtlich des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung
seines Familienlebens mit seinem Kind. Außerdem betont sie nachdrücklich,
dass das Recht des Beschwerdeführers auf freie Entfaltung und Förderung
seiner Persönlichkeit nicht durch einen staatlichen Akt eingeschränkt
worden sei. Dasselbe gelte für die Art und Weise, wie der Beschwerdeführer
sein Leben und insbesondere sein Sexualleben gestalte.
Hinsichtlich des Familienlebens des Klägers macht die Regierung
geltend, dass die Vertragsstaaten beim elterlichen Sorgerecht einen weiten
Beurteilungsspielraum hinsichtlich der legitimen Gesichtspunkte hätten,
die in Absatz 2 von Art. 8 der Konvention aufgeführt seien. Sie fügte
hinzu, dass die staatlichen Institutionen besser als ein internationaler
Gerichtshof geeignet seien, wenn es um das Wohl eines Kindes gehe.
Deshalb solle der Gerichtshof nicht seine eigene Auslegung dem der
nationalen Gerichte vorziehen, es sei denn, dass die betreffenden
Maßnahmen offenkundig unvernünftig oder willkürlich waren.
In diesem besonderen Fall habe das Lissabonner Berufungsgericht in
Übereinstimmung mit dem portugiesischen Gesetz nur das Interesse des
Kindes wahrgenommen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts sei durch das
Gesetz vorgeschrieben (Artikel 1905 Absatz 2 des Zivilgesetzbuchs und
Abschnitte 178 bis 180 des Vormundschaftsgesetzes). Außerdem habe es ein
in einer demokratischen Gesellschaft notwendiges und legitimes Ziel
verfolgt, nämlich den Schutz der Interessen eines Kindes.
Die Regierung stellt fest, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung
ausschließlich im Hinblick auf die überwiegenden Interessen des Kindes
getroffen habe und nicht wegen der sexuellen Ausrichtung des
Beschwerdeführers. Deshalb sei dieser in keiner Weise diskriminiert
worden.
26. Der Gerichtshof wiederholt, dass der Genuss der durch die
Konventionen garantierten Rechte und Freiheiten bei allen Personen in
ähnlichen Situationen durch Artikel 14 vor einer unterschiedlichen
Behandlung ohne objektive und vernünftige Rechtfertigung geschützt wird
(siehe das Urteil Hoffmann, oben zitiert, S. 58, Abschnitt 31).
Deshalb muss geprüft werden, ob der Beschwerdeführer tatsächlich
unterschiedlich behandelt wurde und falls ja, ob dies gerechtfertigt war.
1. Zur Frage der unterschiedlichen Behandlung
27. Die Regierung bestreitet die Behauptung, dass der Beschwerdeführer
und M’s Mutter unterschiedlich behandelt worden seien. Sie legt dar, dass
die Entscheidung des Lissabonner Berufungsgerichts hauptsächlich auf der
Tatsache beruhte, dass es unter den gegebenen Umständen dem Wohl des
Kindes besser gerecht wird, wenn der Mutter das Sorgerecht übertragen
wird.
28. Der Gerichtshof räumt ein, dass das Lissabonner Berufungsgericht
vor allem das Wohl des Kindes im Auge hatte, als es hinsichtlich einer
Reihe von Punkten die Tatsachen und das Gesetz überprüfte, die zugunsten
des einen oder anderen Elternteils hätten sprechen können. Jedoch stellt
der Gerichtshof fest, dass das Lissabonner Berufungsgericht, als es das
Urteil des Lissabonner Gerichts für Familienangelegten änderte und der
Mutter das Sorgerecht übertrug, dabei eine neue Tatsache berücksichtigte,
nämlich die Tatsache, dass der Beschwerdeführer homosexuell ist und mit
einem anderen Mann zusammen lebt. Dementsprechend sieht sich der
Gerichtshof gezwungen festzustellen, dass es einen Unterschied gab in der
Behandlung des Beschwerdeführers und M’s Mutter, die auf der sexuellen
Ausrichtung des Beschwerdeführers beruhte, ein Umstand, der zweifelsohne
von Artikel 14 der Konvention umfasst wird. Der Gerichtshof wiederholt in
diesem Zusammenhang, dass die Aufzählung in dieser Bestimmung nur
Beispielcharakter hat und nicht erschöpfend ist, wie das Adverb
"insbesondere" (auf französisch "notamment") beweist (siehe Engel u.a. v.
Niederlande, Urt. v. 08.06.1976, Series A Nr. 22, S. 30-31, Abschnitt 72).
2) Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung
29. In Übereinstimmung mit den gesetzlichen Akten der Institutionen der
Konvention ist eine unterschiedliche Behandlung, entsprechend dem Sinn des
Art. 14, diskriminierend, wenn es für sie keine objektive und vernünftige
Rechtfertigung gibt, das heißt, wenn keine legitimes Ziel verfolgt wird
oder wenn es zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel
keine vernünftige Relation besteht (siehe Karlheinz Schmidt v. Germany,
Urt. v. 18.07.1994, Series A Nr. 291-B, S. 32-33, Abschnitt 24).
30. Das Urteil des Berufungsgerichts strebte zweifelsohne ein
gesetzmäßiges Ziel an, nämlich den Schutz der Gesundheit und der Rechte
eines Kindes. Es ist deshalb zu prüfen, ob es auch der zweiten Anforderung
gerecht geworden ist.
31. Der Wortlaut des von dem Beschwerdeführer vorgelegten Urteils zeigt
klar, dass die Entscheidung, die elterliche Sorge der Mutter zu
übertragen, hauptsächlich auf der sexuellen Ausrichtung des Vaters beruhte
und seine Diskriminierung gegenüber dem anderen Elternteil verursachte.
32. Die Regierung machte demgegenüber geltend, dass der in Frage
kommende Beschluss die Homosexualität des Beschwerdeführers nur gestreift
habe. Die Ausführungen des Gerichts, auf die der Beschwerdeführer
verwiesen habe, seien in diesem Zusammenhang nur soziologische oder sogar
nur statistische Überlegungen gewesen. Selbst wenn man einräume, dass
gewisse Passagen des Urteils anders hätten ausgedrückt werden können, so
dürften unbeholfene oder missglückte Ausdrücke allein eine Verletzung der
Konvention nicht begründen.
33. Der Gerichtshof wiederholt seinen früheren Befund, dass das
Lissabonner Berufungsgericht, als es der Berufung von M’s Mutter stattgab,
bei seiner Entscheidung über das elterliche Sorgerecht eine neue Tatsache
berücksichtigte, nämlich die Homosexualität des Beschwerdeführers (siehe
oben Abschnitt 28).
Um zu entscheiden, ob dieses Urteil, dass sich diskriminierend
auswirkt, jeder vernünftigen Begründung ermangelt, muss man auch prüfen,
ob die neue Tatsache, wie die Regierung geltend macht, nur ein obiter
dictum darstellte, das keine Auswirkungen auf die Entscheidung hatte, oder
ob sie im Gegenteil entscheidend war.
34. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass das Lissabonner
Familiengericht sein Urteil erst fasste, nachdem der Beschwerdeführer,
seine ehemalige Frau, deren Tochter M., L.G.C. (erg.: der Partner des
Beschwerdeführers) und die mütterlichen Großeltern des Kindes von den
Gerichtspsychologen befragt worden waren. Dies verschaffte dem Gericht die
Tatsachenbasis und die Meinung der Experten war ausschlaggebend für das
Urteil.
Das Berufungsgericht urteilte allein auf der Basis von schriftlichen
Eingaben, beurteilte die Tatsachen anders als das niedrigere Gericht
und übertrug der Mutter das elterliche Sorgerecht. Es erwog u.a., dass das
Sorgerecht bei jungen Kindern generell der Mutter zugesprochen wird, es
sei denn, dass überwiegende Gründe dagegen sprechen (siehe Art 14 oben).
Weiterhin befand das Berufungsgericht dass es keine hinreichenden Gründe
gebe, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen, und übertrug es der Mutter.
Jedoch fügte das Berufungsgericht danach hinzu "Selbst wenn dies nicht
der Fall wäre.....sind wir der Meinung, dass das Sorgerecht über das Kind
der Mutter zugesprochen werden sollte" (ibid). Das Berufungsgericht verwies
dann darauf, dass der Beschwerdeführer homosexuell ist und mit einem
anderen Mann zusammenlebt, und bemerkte "dass das Kind in einer
traditionellen Portugiesischen Familie aufwachsen sollte" und dass es zwar
nicht Aufgabe des Gerichts sei zu beurteilen, ob Homosexualität eine
Krankheit ist oder nicht oder nur eine Orientierung
zu gleichgeschlechtlichen Personen. In beiden Fällen ist es aber eine
Abnormalität und Kinder sollten nicht im Schatten von abnormalen Zuständen
leben müssen" (ibid).
35. Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei diesen Passagen nur um
unbeholfene oder missglückte Formulierungen handelt, wie die Regierung
meint, oder bloß um ein obiter dicta, ist der Gerichtshof im Gegenteil der
Meinung, dass die Homosexualität des Beschwerdeführers ein Faktor war, der
für das Urteil entscheidend war. Diese Schlussfolgerung wird durch die
Tatsache gestützt, dass das Berufungsgericht den Beschwerdeführer gewarnt
hat, sein Umgangsrecht mit dem Kind nicht so zu verwirklichen, dass das
Kind mit bekommt, dass sein Vater mit einem anderen Mann „wie Mann und
Frau zusammenlebt" (ibid.).
36) Dementsprechend muss der Gerichtshof feststellen, dass das
Berufungsgericht eine Unterscheidung traf, die auf seinen Erwägungen über
die sexuelle Ausrichtung des Beschwerdeführers beruhte, und dass diese
unterschiedliche Behandlung mit der Konvention nicht zu vereinbaren ist
(siehe, mutatis mutandis, das oben zitierte Hoffmann Urteil, S. 60,
Abschnitt 36)
Der Gerichtshof kann folglich nicht feststellen, dass zwischen den
eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel eine vernünftige Relation
besteht; es liegt dementsprechend eine Verletzung des Artikels 8 in
Verbindung mit Artikel 14 vor.
B. Angebliche Verletzung des Artikels 8 alleine genommen
37) Angesichts der Schlussfolgerung im vorhergehenden Abschnitt hält es
der Gerichtshof nicht für erforderlich, auf die Behauptung einer
Verletzung des Artikels 8 allein genommen einzugehen; die Argumente, die
in dieser Hinsicht vorgetragen werden, sind im Wesentlichen dieselben wie
diejenigen, die hinsichtlich des Artikels 8 in Verbindung mit Artikel 14
geprüft worden sind.
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