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Deutscher Bundestag
14. Wahlperiode
 

Drucksache 14/2619
27.01.2000

Antrag

der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, Dr. Evelyn Kenzler, Heidemarie Lüth, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch sowie Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Regimes

Der Bundestag wolle beschließen:

  1. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
     
    1. Die Verschärfung des § 175 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) im Jahr 1935 ist in Ursprung, Zweck und Auswirkung als typisch nationalsozialistisches Unrecht anzusehen. Sie ist nichtig. Verurteilungen nach den §§ 175 und 175a Nr. 4 RStGB waren von Anfang an Unrecht. Neben der strafrechtlichen Verfolgung waren homosexuelle Frauen und Männer im Nationalsozialismus weiteren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Dazu zählen Zwangssterilisierungen und medizinische Experimente ebenso wie die Verschleppung in Konzentrationslager. Diese Verfolgungsmaßnahmen sind als typisch nationalsozialistisches Unrecht anzusehen.
       
    2. 1933 wurden die Organisationen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegungen von den Nationalsozialisten zerschlagen. Den bestehenden schwulen Verlagen wurde die Tätigkeit unmöglich gemacht, die Publikationen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung wurden als unzüchtig verboten. Das Berliner Institut für Sexualwissenschaft des Dr. Magnus Hirschfeld wurde von der SA gestürmt, seine Werke gemeinsam mit den Werken anderer Autoren verbrannt. Die Sammlung und Bibliothek des Instituts wurden zerstört. Eine Rückerstattung der Vermögenswerte nach dem Bundesrückerstattungsgesetz fand in der Bundesrepublik Deutschland in keinem Fall statt. Auch in der DDR hat es keine Erstattungen gegeben.
       
  2. Der Deutsche Bundestag sieht die Opfer von Verurteilungen nach den §§ 175, 175a Nr. 4 RStGB während der NS-Zeit sowie die Opfer anderer gegen Schwule und Lesben gerichteten NS-Gewaltmaßnahmen grundsätzlich als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) an. Der Deutsche Bundestag bezeugt ihnen Achtung und Mitgefühl. Er erachtet es als notwendig, dass die Betroffenen die für NS-Verfolgte und -Beschädigte vorgesehenen gesetzlichen Leistungen bekommen.
      
  1. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, 
    einen Gesetzentwurf vorzulegen oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die Folgendes sicherstellen:
     
    1. Die §§ 175 und 175a Nr. 4 RStGB sind in die Liste der in der Anlage zu § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) genannten gesetzlichen Vorschriften aufzunehmen.
       
    2. Die unter Nummer I.1. genannten Opfer sind als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anzuerkennen. Sollten aus formalen Gründen Leistungen unmittelbar nach dem Bundesentschädigungsgesetz nicht möglich sein, ist ein unbürokratisches Vorgehen vorzusehen, mit dem die Betroffenen Leistungen in gleichem Umfang wie nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten. Hierbei sind erleichterte Bedingungen für den Verfolgungsnachweis vorzusehen (Annahme von Regeltatbeständen, Glaubhaftmachungen). Die Bundesregierung soll darüber hinaus auf die Landesentschädigungsbehörden einwirken, dass die bisher abgelehnten Anträge nach dem Bundesentschädigungsgesetz von Amts wegen überprüft und erneut beschieden werden.
       
    3. Schwule und lesbische NS-Opfer aus den neuen Bundesländern, die als ehemalige DDR-Bürger aus formalen Gründen nicht dem Bundesentschädigungsgesetz unterfallen, sollen in vollem Umfang Leistungen nach dem für diesen Personenkreis erlassenen Entschädigungsrentengesetz vom 1. Mai 1992 erhalten.
       
    4. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die unter Nummer I. 1. genannten Opfer einen Rentenschadensausgleich für verfolgungsbedingte Fehlzeiten in der Rentenversicherung erhalten. Ihnen sollen mit ihrer Anerkennung nach § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes bzw. dem Entschädigungsrentengesetz grundsätzlich Leistungen zustehen, die als Rentenschadensausgleich gelten (WGSVG). Es ist gegenüber den Rentenversicherungsträgern auf eine umgehende Anerkennung dieser Ersatzzeiten im Rahmen der Rentenberechnung hinzuwirken. Auf die Einrede der Verjährung ist hierbei zu verzichten.
       
    5. Es sind besondere Maßnahmen zu treffen, die die kulturelle und finanzielle Förderung der geschichtlich-politischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung und des Umgangs mit ihren Opfern zum Gegenstand haben. Diese Maßnahmen sollen auch eine angemessene öffentliche Würdigung des Verfolgtenschicksals der betroffenen Frauen und Männer zum Ziel haben.
       
    6. Es ist ein Gesetzentwurf zur Errichtung einer vom Bund und den Ländern finanzierten Stiftung vorzulegen, die die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung, die Förderung der Sexualwissenschaft und das Werben für gleiche Bürger- und Menschenrechte von Homosexuellen zum Ziel hat. Die Stiftung soll den Namen Dr. Magnus Hirschfeld tragen. Die Bundesregierung soll dafür Sorge tragen, dass die Mittel, die der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung durch die ausgebliebene Rückerstattung bzw. Entschädigung für die während der NS-Zeit erfolgte Zerschlagung und Enteignung ihrer Organisationen, Verlage, Archive und Einrichtungen vorenthalten wurden, der Stiftung zufließen.

Berlin, den 25. Januar 2000

Christina Schenk
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Dr. Evelyn Kenzler
Heidemarie Lüth
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

  

Begründung

Vor 30 Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein bis dahin bewahrtes Relikt der Nazizeit beseitigt: die Strafrechtsreform vom 1. September 1969 revidierte die immer noch geltende Fassung der Paragraphen 175 und 175a StGB aus der NS-Zeit. Ein Akt der Wiedergutmachung oder der Entschädigung war mit dieser Revision des Strafgesetzbuches nicht verbunden. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages verhinderte 1998 die Aufnahme des § 175 in die Anlage zum "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile". Die zur Generalklausel des NS-Aufhebungsgesetzes gegebene Interpretation des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (Beschlussempfehlung 13/ 10848) – sie erfasse auch "diejenigen auf Grund der Paragraphen 175, 175a Reichsstrafgesetzbuch ergangenen Urteile gegen Homosexuelle, die auf eine menschenrechtswidrige Verfolgung und Beseitigung von Homosexuellen abzielten" – unterstellt, es habe Urteile gegen Homosexuelle gegeben, die nicht "unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit […] zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind." 

Unter dem NS-Regime kam es in Deutschland zu einer exzessiven Homosexuellen-Verfolgung. 1933 zerschlugen die Nazis die Organisationen der Bürgerrechtsbewegung der homosexuellen Frauen und Männer der Weimarer Republik. 1935 wurde die Strafverfolgung Homosexueller vor allem durch die Erweiterung und Neuauslegung von Straftatbeständen radikalisiert. Durch die Neufassung des § 175 RStGB und die Einfügung des § 175a wurden Tatbestände und Strafmaß massiv verschärft. Waren zuvor "nur" bestimmte Sexualpraktiken ("beischlafähnliche Handlungen") strafbar, erfolgte nun die vollständige Kriminalisierung von (männlicher) Homosexualität. Die erst in wenigen Ansätzen erfolgte Erforschung der Handhabung der §§ 175, 175a RStGB durch die Gerichte nach 1935 zeigt, dass insbesondere die Bestimmungen der Nummern 3 und 4 des § 175a regelmäßig zur Strafverschärfung herangezogen wurden (vgl. Pretzel, Andreas; Roßbach, Gabi: "… wegen der zu erwartenden hohen Strafe", Berlin: Verlag Rosa Winkel 2000, i. Dr.). Jegliche einvernehmliche gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakte zwischen Männern waren danach von strafrechtlicher Verfolgung bedroht. 

Bei mehrmaliger Bestrafung nach § 175a Abs. 4 RStGB konnten die Betreffenden als "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" (§ 20a RStGB) verurteilt und so genannte Sicherungsmaßnahmen (§ 42e RStGB Sicherungsverwahrung) vom Gericht angeordnet werden. Die "Sicherungsverwahrten" wurden auf Veranlassung des Reichsjustizministers 1943 der Polizei übergeben und in Konzentrationslager eingeliefert. Aber bereits die erste Verurteilung nach den neuen Verbrechenstatbeständen förderte polizeiliche Willkürmaßnahmen, da die Häftlinge nach der Strafverbüßung der Polizei überstellt wurden, die über "Vorbeugungsmaßnahmen" (d. h. die Einlieferung in Konzentrationslager) entschied.

1936 wurde eine "Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung" eingerichtet. In den Jahren 1935 bis 1945 verurteilte die NS-Justiz über 50 000 Menschen wegen homosexueller Handlungen. Es ist davon auszugehen, dass 10 000 bis 15 000 schwule Männer in Konzentrationslager verschleppt wurden (Kokula, Ilse: Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, in: Deutscher Bundestag [Hrsg.]: Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht, Bonn 1987, S. 325). Nur eine Minderheit überlebte den Terror in den Lagern.
 

Hinsichtlich der abweichenden Verfolgungssituation lesbischer Frauen sei auf die Feststellungen von Claudia Schoppmann verwiesen: "Die Nichtkriminalisierung weiblicher Homosexualität verhinderte, dass lesbische Frauen auf ähnliche Weise und vergleichbar (strafrechtlich) intensiv verfolgt wurden wie homosexuelle Männer. Sie teilten jedoch u.a. die Erfahrung der Zerstörung von Einrichtungen der homosexuellen Subkultur, ihrer Klubs und Vereine, das Verbot von Zeitschriften, die Schließung bzw. Überwachung ihrer Lokale und waren ebenfalls von Razzien bedroht. Dies hatte u.a. die Vereinzelung lesbischer Frauen zur Folge […] Nur wenige Fälle sind nachweisbar, in denen Frauen […] wegen ihrer Homosexualität […] verfolgt wurden. […] Möglicherweise waren lesbische Frauen eher von der unspezifischen "Asozialen"-Verfolgung bedroht. […] Als "asozial" galten vor allem diejenigen, die sich dem totalen Leistungsanspruch des NS-Staates zu entziehen suchten. Dabei spielten das Arbeitsvermögen, generatives Verhalten und soziale Bedürftigkeit eine wesentliche Rolle, wovon insbesondere Nichtsesshafte, Arbeitslose, Prostituierte, aber auch Homosexuelle sowie Sinti und Roma betroffen waren. […] Die Prostituierte galt als Prototyp weiblicher "Asozialität", und darüber hinaus wurde von den Nazis ein besonderer Zusammenhang zwischen lesbischen Frauen und Prostituierten behauptet. Jedoch kann nicht geschätzt werden, wie oft sich unter den als "Asoziale" Verhafteten auch lesbische Frauen befanden oder wie oft lesbische Frauen wegen angeblicher Prostitution verhaftet wurden (Schoppmann, Claudia: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit; in Günter Grau [Hrsg.]: Homosexualität in der NS-Zeit, Frankfurt/M. 1993, S. 35–42, hier S. 40f.). Andere Quellen berichten über Frauen in der Wehrmacht, die als Lesben wegen Wehrkraftzersetzung vor ein Kriegsgericht gestellt, aus der Wehrmacht ausgestoßen und in KZ’s verbracht wurden (vgl. Kokula, Ilse: Lesbisch leben von Weimar bis zur Nachkriegszeit, in: Eldorado – Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850 bis 1950, Ausstellungskatalog, Fröhlich & Kaufmann, Berlin 1984, S. 160).

Hieran wie auch im Umgang mit den verschärften §§ 175 und 175a RStGB wird deutlich, dass die Kategorisierungen der Verfolger sich nicht als Kriterien für eine Entschädigung und Wiedergutmachung eignen. Heutige Maxime kann nur sein, dass niemand zu Recht in ein KZ gebracht wurde. 

In wenigen Bereichen staatlichen Handelns hat sich die Bundesrepublik Deutschland so schwer getan, nationalsozialistische Traditionen zu überwinden wie in der staatlichen Unterdrückungspolitik gegenüber Schwulen. Verurteilte nach dem Nazi-Paragraphen erhielten bislang keine Entschädigung. Bisher wird auf der 1986 im Entschädigungsbericht geäußerten Rechtsposition beharrt: "Die Bestrafung homosexueller Betätigung in einem nach den strafrechtlichen Vorschriften durchgeführten Verfahren ist weder NS-Unrecht noch rechtsstaatswidrig. […] Deshalb können Strafen, die in einem nach den gesetzlichen Vorschriften durchgeführten Strafverfahren verhängt und im regulären Strafvollzug vollstreckt wurden, nicht als Freiheitsentziehung entschädigt werden." (Drucksache 10/6287, S. 40)
 

Dabei ist heute durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg anerkannt, dass eine strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen menschenrechtswidrig ist (EGMR, NJW 1984, 541 [Fall Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich]; EuGRZ 1992, 477 [Fall Norris gegen Irland]; ÖJZ 1993, 821 [Fall Modinos gegen Zypern]). Die Bundesregierung muss dieser europäischen Rechtsentwicklung zur Anerkennung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung Rechnung tragen. 

Selbst die lesbischen und schwulen NS-Opfer, die Zwangssterilisationen oder KZ-Haft ausgesetzt waren, sind bisher nicht als Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. In Missachtung historischer Tatsachen lautete die herrschende Rechtsposition: "Homosexuelle" seien zwar "häufig als politische Gegner behandelt und in ein Konzentrationslager eingeliefert (worden). […] In Wirklichkeit beruhten die gegen sie ergriffenen Maßnahmen jedoch auf Gründen der Sicherheit, der Ordnung oder ähnlichen Gründen, die mit einer echten politischen Gegnerschaft nichts zu tun hatten" (vgl. Giessler, Hans, in: Bundesminister der Finanzen; Schwarz Walter [Hrsg.]: Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, München 1981, S. 13f.).

Die neuere historische Forschung geht dagegen davon aus, dass der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung rassistische und sexistische Motive zugrunde lagen (vgl. z. B. Stümke, Hans-Georg; Homosexuelle in Deutschland; Eine politische Geschichte, München, 1989; Jellonek, Burkhard: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, Paderborn 1990; Plant, Richard: Rosa Winkel, Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen, Frankfurt/Main 1991; Grau, Günter: Homosexualität in der NS-Zeit, Frankfurt/Main 1993). 

Die Verschleppung Homosexueller in ein KZ wurde bisher zwar als Staatsunrecht, nicht aber als "typisches NS-Unrecht" eingestuft. Schwule KZ-Häftlinge konnten zwar theoretisch Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG) von 1957 geltend machen. Dieses sah aber gegenüber dem BEG erheblich geringere Leistungen vor. Außerdem hat das AKG für Schwule kaum praktische Bedeutung erlangt. Angesichts des damaligen Verfolgungseifers gegenüber schwulen Männern – allein in den ersten 15 Jahren der Bundesrepublik Deutschland wurden über 100 000 Ermittlungsverfahren wegen § 175 StGB eingeleitet – fürchteten ehemalige KZ-Opfer mit einiger Berechtigung neue Strafverfolgung und damit erneuten Verlust ihrer bürgerlichen Existenz, wenn sie Ansprüche geltend und damit ihre Homosexualität behördlich bekannt gemacht hätten. Gerade in den Jahren 1958/59, in denen AKG-Anträge gestellt werden konnten, erreichte die Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland nach § 175 StGB Verurteilten mit 3 500 ihren Höchststand (Gesamtzahl der Verurteilungen: 1933 bis 1940: 37 490; 1950 bis 1969: 59 316). 
 

So haben nur 14 schwule NS-Opfer fristgerecht bis zum 31. Dezember 1959 Anträge nach dem AKG gestellt. Neun weitere Anträge gingen nach Fristende ein. Angesichts vieler Tausender schwuler Männer (und einer nicht mehr bestimmbaren Zahl von lesbischen Frauen), die in den Konzentrationslagern litten oder von anderen NS-Unrechtsmaßnahmen betroffen waren, ist dies eine beschämende Zahl. Der 1987 eingerichtete AKG-Bundeshärtefonds für NS-Verfolgte hat an der Misere wenig geändert, weil er völlig unzureichend ist. Durch die Anlehnung des Härtefonds an das AKG wurde die diskriminierende Tradition der Aufspaltung der Opfer weiter zementiert. Aufgrund der restriktiven Zugangsvoraussetzungen konnten bislang nur vier Homosexuelle laufende Leistungen aus dem AKG-Härtefonds erhalten. Eine Einmalleistung bis zu 5 000 DM nach den AKG-Härterichtlinien wurde lediglich 16 homosexuellen Opfern gewährt. Eine Entschädigung, die diesen Namen verdient, hat gegenüber homosexuellen NS-Verfolgten praktisch nicht stattgefunden.

Die DDR war zwar schon 1950 zur Weimarer Fassung des § 175 zurückgekehrt, schloss Homosexuelle aber ebenfalls von Entschädigungsleistungen aus. Schwule Nazi-Opfer gehörten nicht zu dem Personenkreis, dem Ehrenpensionen zuerkannt wurden. Nach der Vereinigung gingen die Betroffenen erneut leer aus. Bei der Überleitung der DDR-Ehrenpensionen im Entschädigungsrentengesetz wurden sie und andere "vergessene" Opfer weiterhin ausgegrenzt, da hierfür wiederum der enge Verfolgtenbegriff des Bundesentschädigungsgesetzes zugrunde gelegt wurde. 

Nicht nur einzelne homosexuelle Frauen und Männer standen im Visier des NS-Staates. Unverzüglich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde auch die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung der Weimarer Republik zerschlagen. Das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee" löste sich im Sommer 1933 selbst auf, der "Bund für Menschenrecht" wurde formell am 5. Januar 1936 liquidiert. Die informelle "Gemeinschaft der Eigenen" von Adolf Brand zerfiel nach der Vernichtung der verlegerischen Existenz ihres Gründers. Geschäftsstellen und Verlagshäuser wurden geschlossen, die Presse der Homosexuellen verboten. Ebenfalls schließen mussten Versammlungslokale und andere Treffpunkte von Lesben und Schwulen. Die Selbstorganisation homosexueller Männer und Frauen wurde damit so nachhaltig vernichtet, dass der damalige Stand erst in den späten siebziger (Bundesrepublik Deutschland) bzw. achtziger Jahren (DDR) annähernd wieder erreicht werden konnte. 
 

Besondere Bedeutung bei der Vernichtung der Infrastruktur der homosexuellen Selbstorganisation kam der Zerstörung des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft von Dr. Magnus Hirschfeld zu. Am 6. Mai 1933 wurde das Institut von SA- und NS-Studenten als Auftakt der Bücherverbrennung gestürmt und geplündert. Das 1919 von Dr. Magnus Hirschfeld gegründete Institut hatte sich neben der wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Sexualität immer auch für gesellschaftliche Sexualreformen und für die Rechte der Homosexuellen eingesetzt. Das Vermögen der Trägerin, der Dr. Magnus-Hirschfeld-Stiftung, wurde vom preußischen Staat eingezogen. Nach dem Krieg gab es hierzu ein Wiedergutmachungsverfahren, das sich lediglich auf die Institutsgebäude und -grundstücke bezog und 1995 mit einem Vergleich endete, der dem Stiftungszweck von Dr. Magnus Hirschfeld völlig zuwiderlief (vgl. dazu Dose, Ralf: Bericht für die "Washington Conference on Holocaust Era Assets" 1998; zugänglich über http://www.in-berlin.de/user/hirschfeld). Die Arbeit des Instituts konnte nicht fortgesetzt werden. 

Für die Zerstörung der Infrastruktur der homosexuellen Bürgerbewegung, die Vernichtung der identitätsstiftenden Selbstorganisationen und Institutionen ist eine Wiedergutmachung in der Form erforderlich, dass die historische Aufarbeitung der Verfolgung, die homosexuelle Selbstorganisation sowie gesellschaftliche Initiativen zum Abbau von Diskriminierung und Vorurteilen, von Sexismus und Rassismus öffentlich gefördert werden. Dies soll durch die beantragte Stiftung gewährleistet werden. 

40 Jahre lang wurde die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus in West- wie Ostdeutschland fast totgeschwiegen. Erst Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede zum 8. Mai 1985 auch der homosexuellen Opfer des NS-Terrors angemessen gedacht. Die bis heute nicht erfolgte Entschuldigung, Entschädigung und Wiedergutmachung ist umgehend nachzuholen.
 
 


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