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Plenarprotokoll 14/96

Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

96. Sitzung

Berlin, Freitag, den 24. März 2000

I n h a l t :

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Tagesordnungspunkt 21:

  1. Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch sowie Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Regimes 
    (Drucksache 14/2619) . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  8962 B
  2. Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Rehabilitierung und Entschädigung für die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 
    (Drucksache 14/2620) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8962 D

in Verbindung mit 

Zusatztagesordnungspunkt 8:

Antrag der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen 
(Drucksache 14/2984) . . . .     . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8963 A

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b sowie den Zusatzpunkt 8 auf:

21 a)  Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS 
Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch sowie Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Regimes 
– Drucksache 14/2619 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
 

b)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Rehabilitierung und Entschädigung für die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 
– Drucksache 14/2620 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
 

c)

 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen 
– Drucksache 14/2984-
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Margot von Renesse das Wort.

Margot von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir in der letzten Legislaturperiode über das NS-Aufhebungsgesetz sprachen – Herr Beck, Sie erinnern sich –, waren wir uns darüber einig, dass die Homosexuellen – die Menschen mit dem "rosa Winkel", in den Geltungsbereich dieses Gesetzes einzubeziehen sind: Sie konnten, sowohl was Rehabilitierung als auch was Entschädigung angeht, nicht anders behandelt werden als alle, die einem speziellen NS-Unrecht zum Opfer gefallen waren – gleichgültig, ob sie noch lebten oder durch die Täter von damals vernichtet worden sind. Es war uns zu diesem Zeitpunkt völlig klar, dass ihre Ehre wiederhergestellt werden muss. 

Seinerzeit gab es gerade auch über diesen Punkt Streit. Ich will an einen anderen Sachzusammenhang erinnern, der sozusagen den Vorwand dafür lieferte, dass es überhaupt dazu kommen konnte. Wir waren uns in der letzten Legislaturperiode zum Glück einig, dass jedenfalls diejenigen, die durch die Erbgesundheitsgerichte der NS-Zeit so etwas Schreckliches wie Zwangssterilisierung haben erdulden müssen, vom Gesetz erfasst werden mussten.

Das war lange Zeit nicht klar. Denn die Frage, ob es sich um spezielles NS-Unrecht handelte, war streitig, und zwar deshalb, weil es das – gerade bei Zwangssterilisationen ist das ein erschreckender Tatbestand – innerhalb Deutschlands und auch außerhalb Deutschlands vor der nationalsozialistischen Zeit und auch noch danach gegeben hat. Es wird gefragt, wieso das ein spezielles NS-Unrecht sei. Das hat es doch immer gegeben, wenn auch während der nationalsozialistischen Zeit in besonders schlimmer Weise.

In der letzten Legislaturperiode war Gott sei Dank allen klar, dass das, was die Nazis aus einem furchtbaren Irrtum heraus, der schon vor und noch nach der nationalsozialistischen Zeit obwaltete, gemacht hatten, nur noch begrenzt mit einem furchtbaren Irrtum zu tun hatte. Das Vorgehen der Nazis war vielmehr von Vernichtungswillen, Verfolgung sowie Beseitigung der – wie das manchmal in solchen Entscheidungen hieß – Elemente des Abschaums und der Volkszerstörung und -vernichtung geprägt. Ähnliche Probleme – Herr Beck erinnert sich auch daran – hatten wir auch bei den Deserteuren. Die Spezifität des nationalsozialistischen Unrechts erschien hier unklar. Zum Glück ist das ausgestanden. 

Damals bestand für mich, für uns alle die Frage: Wieso trifft das eigentlich immer noch nicht für die Opfer von Verurteilungen nach § 175 RStGB zu? Diese sind in der Weimarer Republik und in der Nazizeit eben nicht nur verurteilt worden. – So schlimm diese Urteile auch waren. Es war ja keine leichte Sache, nach § 175 RStGB verurteilt zu werden. – Diese Verurteilungen hatten nichts mehr mit juristischer Praxis zu tun. Es handelte sich nur noch um Tötung, Vernichtung, Beseitigung und Ausmerzung und führte bis hin zu den KZs. 

Diese Auseinandersetzung haben wir jetzt Gott sei Dank hinter uns. Mit der neuen Regierung ist klar – auch der vorliegende Antrag macht dies deutlich; uns war dies eigentlich von Anfang an klar –, dass wir spätestens dann, wenn wir die Gesamtheit der die homosexuellen Paare betreffenden Rechtsbestimmungen ändern wollen, eine endgültige Bereinigung auch dieses Kapitels herbeiführen müssen.

Nach wie vor stellt sich die Frage der Vorgehensweise. Ist das mit dem alten Gesetz erreichbar oder bedürfen wir eines neuen? Falls es eines neuen Gesetzes bedarf, werden wir es einbringen. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. In diesem Zusammenhang bestehen inzwischen Gott sei Dank keine Fragen mehr. Ich nehme an, auch die andere Seite dieses Hauses sieht dies angesichts der übrigen von mir angesprochenen Sachzusammenhänge so.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Ja!)

– Na wunderbar. Dann gibt es in dieser Frage wahrscheinlich Einheitlichkeit in diesem Hause.

Ein Extraproblem ist die Frage: Was machen wir mit den Verurteilungen nach § 175 StGB nach 1945? Denn es hat sie auch nach 1945 gegeben. Erst die Große Koalition hat damit 1969 unter Führung des damaligen Justizministers Dr. Gustav Heinemann ein Ende gemacht. Bis 1969 galt in der alten Bundesrepublik der § 175 StGB fort. Erst in der vergangenen Legislaturperiode haben wir die letzten Unterschiede in der Strafrechtsbehandlung homosexueller und heterosexueller Handlungen endgültig bereinigt. Es hat schrecklich lange gedauert.

Was machen wir also mit den nach § 175 StGB Verurteilten? Inzwischen wissen wir – Straßburger Urteile machen dies deutlich –: Bei all diesen Verurteilungen handelt es sich um Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention des Europarates. Wie gehen wir damit um? Ein uraltes strafrechtliches Problem, mit dem wir uns auseinander setzen müssen, ist, dass Unrechtsurteile, auch wenn sie falsch sind bzw. auf falschem Recht beruhen, nicht schon deswegen automatisch aufhebbar sind.

Das ist anders – ich komme noch einmal auf einen bereits von mir angesprochenen Punkt zurück – bei den Vorgehensweisen in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Weil alle diese Urteile keine Urteile waren, die einen Tatbestand umsetzten, und zwar so deutlich, dass nicht einmal mehr juristisch argumentiert wurde, sondern nur noch der Vernichtungswille zum Ausdruck kam, deswegen kann man sie genauso generell aufheben, wie man das auch im Hinblick auf die Waldheim-Urteile getan hat, wohl wissend, dass es sich um Menschen handelte, die auch in einem Rechtsstaat der Verurteilung hätten zugeführt werden müssen. Aber weil dies Urteile waren, die nicht einmal mehr die Qualität eines Urteils hatten, deswegen haben wir uns entschlossen, die Waldheim-Urteile alle aufzuheben. Das haben wir auch bei den Desertionsurteilen getan. 

Meines Erachtens – das sage ich hier ganz persönlich – kann man das bei den Urteilen gegen Homosexuelle aus der Zeit von 1933 bis 1945 ohne Weiteres auch tun. Ich persönlich sage sogar: Man muss es tun.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)

Wir werden uns damit auseinander zu setzen haben. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen; deswegen gibt es noch kein eindeutiges Ergebnis, eines, das für alle feststeht. Mein Ergebnis habe ich bereits genannt. 

Ich denke, dass man auch denjenigen, die nach 1945 verurteilt worden sind, zumindest in einem Punkt entgegen kommen muss: Man muss ihnen ihre Ehre wiedergeben. Es würde nichts verschlagen, wenn sich die Bevölkerung, vertreten durch dieses Parlament, bei all denen entschuldigt, die im Namen dieses Staates zu leiden hatten, obwohl sie niemandem Unrecht getan haben. Das ist mein Wunsch. Ich hoffe, dass die Bundesregierung entsprechend handelt.

Danke sehr. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)
  

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Debatte über den Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Bundeswehr vor Verunglimpfung hat der Abgeordnete Beck am 30. September letzten Jahres seinen Redebeitrag mit den Worten begonnen: "Die Wiedervorlagemappe der Union scheint wirklich unerschöpflich zu sein." Weiter sagte er, dass es die Union mit ihrem Antrag gar nicht so ernst zu nehmen scheine; denn sie präsentiere ihn nach 1996 zum zweiten Mal. 

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der PDS: Leider nicht!)

In dem Redebeitrag des Abgeordneten Stünker in der gleichen Debatte, den er mit der Feststellung begonnen hat, dass sich der Bundestag nicht zum ersten Mal mit diesem Gesetz beschäftige, findet sich der Zwischenruf wiederum des Abgeordneten Beck: "Das ist inzwischen ein Running Gag!" Ein weiterer Zuruf vom Bündnis 90/ Die Grünen lautete: "Denen fällt nichts mehr ein!" Ich möchte die heutige Debatte nicht mit der Beck‘schen Geringschätzung führen,

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Er ist immer so!)

wenngleich ich feststellen muss, dass auch dieses Gesetz nicht zum ersten Mal den Deutschen Bundestag beschäftigt. 

Ich bin zum ersten Mal Redner zu diesem Gesetz. Ich weiß, dass man sich sehr schnell der Gefahr und dem Vorwurf aussetzt, ein Ewiggestriger zu sein, wenn man diese Anträge, die auf dem Tisch liegen, nicht sofort unkritisch und unreflektiert in vollem Umfang bejaht. Damit Sie der Debatte ganz entspannt folgen können, kann ich Ihnen für mich – ich denke, auch für meine ganze Fraktion – klipp und klar sagen: Ich begrüße die Aufhebung von § 175 und § 175 a Nr. 4. Bedauerlicherweise kam die Aufhebung vielleicht viel zu spät. Ich verurteile aufs Schärfste die Rechtsanwendungspraxis der Gerichte bezüglich der NS-Zeit. 

Dennoch gebieten die Vorlagen, dass man sich mit ihnen differenziert auseinander setzt, wobei ich eine objektive Betrachtung unter Ausblendung der Urheberschaft zweier Anträge vornehmen möchte. Es ist aber schon befremdlich, dass ausgerechnet die PDS als Nachfolgepartei der SED diese Anträge stellt, die ebenfalls in einem Unrechtsstaat vor Terror, Mord, Bespitzelung, Denunziation und Rechtsbeugung keinen Halt gemacht hat. 

(Zurufe von der PDS: Oh! – Christina Schenk [PDS]: Sie müssen sich einmal informieren!)

Soweit der Antrag darauf zielt, dass der Bundestag feststellen möge, dass die Verschärfung der Vorschriften oder die Vorschriften selber typisch nationalsozialistisches Unrecht seien, muss ich Ihnen unter Ausblendung der Urheberschaft sagen – ich will jetzt keine Rechtsexegese vornehmen, aber die Dogmatik gebietet es nun einmal das zu sagen –, dass der Bundestag dafür der falsche Adressat ist.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Richtig!)

Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1957 in der amtlichen Entscheidungssammlung Band 6 auf Seite 389 ff. festgestellt, dass die Vorschriften der §§ 175 ff. kein typisch nationalsozialistisches Unrecht sind. Nun könnte man über den Inhalt trefflich streiten. Das will ich aber gar nicht tun. Möglicherweise würde man heute unter den gegebenen Lebensverläufen und Anschauungen auch anders urteilen. Aber diese Entscheidung, die auf eine Verfassungsbeschwerde eines vom Landgericht Hamburg verurteilten Homosexuellen erging, entfaltet nun einmal Bindungskraft. § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes legt fest:

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. 

Daran kommt man nicht vorbei. Es mag ein formalistisch anmutender Einwand sein. Aber jedenfalls steht er diesem Petitum der PDS entgegen. 

Um eine andere Geschichtsklitterung gar nicht aufkommen zu lassen, möchte ich einen ganz kleinen historischen Exkurs machen. Die §§ 175 und 175 a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches sind nicht das Gewächs der Nationalsozialisten. Es kam ihnen sehr zupass, wie die Verschärfung und die unmenschlichen Anwendung später gezeigt haben. Aber die Geschichte der strafrechtlichen Würdigung gleichgeschlechtlicher Beziehungen geht zurück auf das Alte Testament, das dritte Buch Moses, ging fort über die Constitutio Criminalis Carolina im 16. Jahrhundert und wurde schließlich im gemeinen deutschen Recht 1871 in das Reichsstrafgesetzbuch übernommen.

(Margot von Renesse [SPD]: Das ist nicht das Grundgesetz!)

Das ist in der Tat nicht das Problem. Die Probleme fokussieren sich, soweit es um die Aufhebung geht, auf die Zeit zwischen 1935 und 1945, wie meine Vorrednerin schon gesagt hat.

Frau Renesse, Sie haben Ihre Regierung im Übrigen zu Unrecht als Urheber genannt. Dies geschah noch unter der Regierung von CDU/CSU und F.D.P. 

(Margot von Renesse [SPD]: 1969 war es Heinemann!)

Das möchte ich der Richtigkeit halber sagen, ohne polemisch zu werden. Da wir Juristen aber einen hohen Anspruch haben, gebietet es die Richtigkeit. 

In dem Gesetz über die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile gibt es in § 1 eine Generalklausel, wonach Urteile aufzuheben und die Verfahren einzustellen sind, wenn sie die Grundsätze der Menschlichkeit verletzen, wenn sie religiöser oder rassistischer Natur sind. Dann gibt es eine Spezialklausel, nämlich § 2 Nr. 3, und dazu einen Kanon in der Anlage. Es ist darüber ein Streit entstanden, ob die §§ 175 und 175 a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches mit in den Kanon von § 2 Nr. 3 aufgenommen werden sollen, mit der Konsequenz, dass alle in der Zeit zwischen 1935 und 1945 gefällten Urteile automatisch dem Verfall anheim gegeben werden und die Verfahren eingestellt werden.

(Zuruf von der PDS: So kann man es auch formulieren!)

Es gibt einen ähnlichen – oder sogar gleich lautenden – Antrag der Freien und Hansestadt Hamburg, der zurzeit im Rechtsausschuss des Bundesrates behandelt wird. Dort wird über genau diese Frage gestritten. Bezeichnenderweise war es ein Vertreter des Bundesjustizministeriums, der die Schwierigkeit aufgezeigt hat, wenn man eine Pauschalaufhebung und keine Einzelantragstellung und Einzelrehabilitierung macht, wenn alle in den Jahren 1935 bis 1945 erfolgten Urteile aufgehoben werden, ohne Ansehen dessen, ob eine Tatbestandswidrigkeit vorgelegen hat oder ob sie im justizförmlichen Verfahren ergangen sind.

Es spricht in der Tat eine fast unwiderlegbare Vermutung dafür, dass alle Urteile Nichturteile oder ein Aliud zu Urteilen sind, dass aber in der Zeit vor 1935 und nach 1945 die Urteile Bestand haben. Diejenigen, die vor oder nach dieser Zeit verurteilt worden sind, könnten natürlich sagen: Wäre ich nur in dieser Zeit verurteilt worden, so würde an mir kein Stigma haften. 

Es ist eine fast tragische Situation, dass man mit der Abschaffung des einen Unrechts sozusagen einen neuen Ungleichtatbestand schafft, indem man die einen rehabilitiert, und zwar pauschal über die Generalklausel des § 1, und die anderen hängen lässt. Insofern könnte ich mich mit dem Prüfantrag der SPD anfreunden, obwohl ich nicht weiß, wie viele Erkenntnisse man noch gewinnen will, wenn man das an anderer Stelle diskutiert. Vielleicht gibt es empirische Erfahrungen, ob es einen Fall gibt, bei dem jemand, der zwischen 1935 und 1945 verurteilt worden ist, auf Antrag nicht rehabilitiert wurde. Das kann ich mir nicht vorstellen. Daher halte ich die Aufnahme der §§ 175 und 175a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches in diesen Kanon für obsolet. Ich finde, dass die Fälle in dem Gesetz, das in der letzten Legislaturperiode beschlossen worden ist, abschließend geregelt worden sind.

Deswegen komme ich nun zu den übrigen Anträgen, die eher abstrakt formuliert worden sind. In dem Antrag der SPD wird jede Form der Gewaltanfeindung und -diskriminierung von Schwulen und Lesben verurteilt. Meine Damen und Herren von der SPD, dieser Antrag hat einen geradezu trivialen Charakter, weil ich nicht nur Gewaltdiskriminierung und -anfeindung von Schwulen und Lesben verurteile, sondern auch gegenüber allen anderen Personengruppen, und übrigens auch gegenüber den Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung und dem Überwachungspersonal von Castor-Transporte

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Richtig!)

auch gegenüber Soldaten, Polizisten und jeder Art von Menschen- und Personengruppen, ohne Ansehen, ob sie heterosexuell oder homosexuell sind.

(Zuruf von der PDS: Gehören wir auch dazu? – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Keine Aufregung bei der PDS! Ex-Kommunisten!)

Soweit Sie eine Entschuldigung durch den Deutschen Bundestag begehren, so möchte ich darauf hinweisen, dass ich am Anfang gesagt habe, dass ich mit Bedauern festgestellt habe, dass die Aufhebung der §§ 175 und 175 a Nr. 4 zunächst 1969 und dann endgültig 1994 vielleicht zu spät gekommen ist. Aber wenn wir uns für alles, was der Gesetzgeber bei retrospektiver Betrachtungsweise als Unrecht erkennt und aufhebt, gleichzeitig immer wieder bedauern und entschuldigen wollen, 

(Zurufe von der SPD) 

dann erinnert mich das ein bisschen – ich muss es sagen, meine Damen und Herren an Koketterie. 

(Stephan Hilsberg [SPD]: Ich bitte Sie!)

Die Aufhebung des Gesetzes und die Streichung sind doch sicherlich nicht unter ausdrücklicher Zurückstellung des Bedauerns oder der Entschuldigung geschehen. Deswegen muss ich Ihnen ehrlich sagen: Ich könnte damit leben, wenn sich der Deutsche Bundestag nicht wieder einmal ausdrücklich dafür entschuldigt; denn es gibt auch viele andere Verurteilungen, die auf Strafnormen fußen, die im Laufe von Strafrechtsreformen weggefallen sind.

Ich nenne zum Beispiel den Kuppelparagraphen. Ich bin 1952 geboren. Als pubertierender Jüngling, so glaube ich, noch vor der Strafrechtsreform 1969 wurde ich von der Mutter meiner damaligen Freundin vor 22 Uhr nach Hause geschickt worden, weil es hieß: Ich will mich doch nicht noch wegen Kuppelei anzeigen lassen. 

Meine Damen und Herren, das ist im Recht eben so. Insofern stehen zwei Prinzipien sozusagen unversöhnlich im Raum: das Prinzip der formellen Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit. Ich habe dafür auch keinen genialen Vorschlag und weiß kein Rezept dafür. Ich weiß nur, dass beiden Prinzipien Rechnung getragen werden muss, und glaube deshalb, dass das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der letzten Legislaturperiode einen würdigen Schlusspunkt darstellt. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU)
  

Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Gehb, Ihre Rede hat, so glaube ich, deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass wir diese Debatte noch einmal hier im Hohen Haus führen. 

Wir widmen uns heute einem besonders dunklen Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte. 1935 wurde der § 175 in Tatbestandsfassung und Strafmaß massiv verschärft. Waren zuvor nur bestimmte Sexualpraktiken strafbar, wurde nun die totale Kriminalisierung von Homosexualität verordnet. Tausende schwule Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt, in denen sie einen rosa Winkel tragen mussten. Nur die wenigsten überlebten den Terror der Lager. 50 000 Männer wurden von der NS-Justiz wegen – wie es damals hieß – widernatürlicher Unzucht verurteilt. Von bundesdeutschen Gerichten wurden bis 1969 nochmals 50 000 Verurteilungen nach § 175 des Strafgesetzbuches ausgesprochen. Dieser Paragraph hat auch in der Bundesrepublik Existenzen vernichtet. Die drohende Strafverfolgung hat das Leben ganzer Generationen von Homosexuellen überschattet. 

Ein zentrales Anliegen unseres Antrages ist es daher, dass sich der Deutsche Bundestag ausdrücklich von dieser unseligen Rechtstradition distanziert. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)

Als Gesetzgeber müssen wir endlich die Kraft haben, uns bei den homosexuellen Bürgern ausdrücklich für diese Verfolgung zu entschuldigen. Ein solches Schuldbekenntnis des Gesetzgebers ist wirklich eine historische Zäsur. Es ist ein längst überfälliges Signal an die Schwulen und Lesben, aber auch an die Gesellschaft insgesamt. 

Der Antrag befasst sich auch mit der noch ausstehenden vollen gesetzlichen Rehabilitierung der Opfer des § 175 in der NS-Zeit. Bündnis 90/Die Grünen und SPD sind 1998 noch mit dem Anliegen gescheitert, § 175 in das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile aufzunehmen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass man unter neuen Mehrheitsverhältnissen versucht, nun dieses Anliegen durchzusetzen. 

Herr Gehb, ich darf Sie einmal daran erinnern: Was war der Hintergrund des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile? Anlass dafür, dass Frau Lore Peschel-Gutzeit als Berliner Justizsenatorin diese Diskussion hier in Berlin im Abgeordnetenhaus angestoßen hat, war, dass die Schüler einer Berliner Schule, die nach Niemöller benannt war, gesagt haben: Wir wollen, dass das Strafrechtsurteil gegen diesen Widerstandskämpfer aus der Zeit des Nationalsozialismus aufgehoben wird. Wir brauchten zwei Jahre, bis wir herausgefunden haben, dass dieses Urteil bereits aufgehoben war. Dann haben wir gesagt: Eine solche Debatte ist doch unwürdig. Es ist unwürdig, dass wir nicht wissen, ob das Urteil gilt oder nicht. Deshalb haben wir damals trotz der Feststellung, dass das Urteil aufgehoben war, ein Gesetz gefordert, das die alte Koalition schließlich mitgetragen hat.

Dieselbe Situation wie bei Niemöller haben wir doch jetzt bei den homosexuellen Opfern. Durch die Generalklausel besteht die Möglichkeit, dass manche Urteile aufgehoben sind, manche auch nicht. Das Justizministerium hat in der letzten Wahlperiode gesagt, zumindest seien es nicht alle. Keiner weiß, was gilt. Wollen Sie denn 80-jährige Männer zur Staatsanwaltschaft schicken, damit diejenigen, die sie als Institution über Jahre auch in der Bundesrepublik verfolgt haben, ihnen sagen, ob ihr Urteil gilt oder nicht? Das ist doch ein unwürdiges Verfahren; das können wir diesen Menschen nicht zumuten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)

Deshalb sollten wir hier Rechtsklarheit schaffen. Das Gleiche gilt übrigens für die Wehrmachtsdeserteure. Die Rechtsgrundlagen der Verurteilung gehören in die Anlagen des § 2. Das sind wir diesen Opfern wirklich schuldig. 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Eine solche pauschale Aufhebung wäre auch keine Sonderbehandlung, sondern würde lediglich Homosexuelle in Sachen Rehabilitierung mit den anderen Opfern der NS-Justiz gleichstellen.

Herr Kollege, Sie haben das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1957 angesprochen. Sie haben es falsch zitiert. Damals hat Karlsruhe gesagt, § 175 – in diesem Punkt haben Sie sich geirrt – sei nicht insoweit nationalsozialistisches Unrecht, dass ihm in einem Rechtsstaat jede Wirkung versagt bleiben müsste. Sie haben behauptet, Karlsruhe habe festgestellt, das sei kein nationalsozialistisches Unrecht. Das hat Karlsruhe nicht gesagt. Karlsruhe konnte sich zu dieser Frage damals auch nur wenig qualifiziert äußern, denn die erste wissenschaftliche Publikation über nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung ist 20 Jahre jünger als dieses Urteil.

Deshalb kann man es den Karlsruher Richtern nicht wirklich zum Vorwurf machen, dass sie sich in zwei Punkten geirrt haben: ob es grundgesetzkonform ist und ob es mit der europäischen Menschenrechtskonvention übereinstimmt. Sie haben damals auch gesagt, es stimme mit der europäischen Menschenrechtskonvention überein. Inzwischen gibt es vier Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die vergleichbare Rechtslagen in anderen Ländern als menschenrechtswidrig und als Konventionsverstoß geahndet und die Aufhebung dieser Vorschriften herbeigeführt haben. 

Lassen Sie uns daher das Karlsruher Urteil liegen lassen! Lassen Sie uns Recht nach moralischen Kriterien schaffen! Lassen Sie uns gemeinsam den Opfern die Ehre zurückgeben und uns als Bundestag für unsere historischen Verfehlungen als Institution entschuldigen! Ich glaube, es ist eine Größe der Demokratie, Fehler zu erkennen. Die Demokratie erlaubt eine Fehlerkorrektur im demokratischen Prozess. Diese Freiheit sollten wir uns nehmen.

Eine weitere Frage wird im Antrag angesprochen, nämlich die der Entschädigung. Homosexuelle NS-Opfer wurden nicht als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt. Sie wurden auf minderrangige Gesetze und Härtefonds verwiesen. Eine Entschädigung im eigentlichen Sinne hat es für diese Gruppe nicht gegeben. Nur sehr wenige Menschen aus dieser Gruppe haben überlebt und leben noch heute. Deshalb ist es wichtig, dass wir im Einzelfall helfen können. Im Koalitionsvertrag haben wir eine Tür dafür, nämlich die zweite Bundesstiftung Entschädigung für NS-Unrecht, über die wir in den nächsten Jahren noch diskutieren müssen und mit der wir auch dieser Gruppe helfen müssen.

Aber eine weitere Frage ist noch offen. Unverzüglich nach ihrem Machtantritt zerschlugen die Nationalsozialisten die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung der Weimarer Republik. Vereine wurden aufgelöst, Zeitschriften verboten. Die Selbstorganisation homosexueller Männer und Frauen wurde damit so nachhaltig getroffen, dass in vielen Bereichen der damalige Stand jahrzehntelang nicht wieder erreicht werden konnte. Hier wird intensiv zu beraten sein, ob es Möglichkeiten gibt, bezüglich des Ausbleibens einer Entschädigung und Restitution nach dem damaligen Entschädigungs- und Restitutionsrecht für diese juristischen Personen eine politische Lösung zu schaffen. 

Unweit von hier, dort, wo die "schwangere Auster" steht, stand vor einigen Jahrzehnten das Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld. Dort war der Sitz des Wissenschaftlichen Humanitären Komitees. Dieses wurde 1933 von der SA und der NSDAP gestürmt. 

Die Bücher wurden auf dem Platz der Bücherverbrennung verbrannt. Das Institut wurde nach 1945 nicht wieder zurückgegeben, sondern das Eigentum ging an das Land Berlin über und wurde damals dem Stiftungszweck der Stiftung, die dort bestand, entzogen. Wir brauchen hier eine politische Lösung. Wir müssen darüber reden, wie wir auch dieses Unrecht wieder gutmachen. Die Gruppe der Homosexuellen können wir für dieses Unrecht entschädigen und dafür sollten wir einen Anlauf unternehmen. 

Vielen Dank. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
  

Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Jörg van Essen.

Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich heute im Vergleich zu den anderen die kürzeste Redezeit habe, habe ich nur die Gelegenheit, einige wenige Gedanken anzusprechen. 

Dass wir über dieses Thema aufgrund verschiedener Anträge schon oft diskutieren mussten, kann man nur außerordentlich begrüßen. Es gibt viele Opfergruppen, die zu Recht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Aber es gibt auch Opfergruppen, bei denen das nicht der Fall ist. Ich denke, dass die Opfergruppe, die heute Gegenstand der Debatte ist, zu denen gehört, die häufig vergessen werden. Man merkt es bei Inschriften von Denkmalen und bei vielen anderen Gelegenheiten. Deshalb begrüße ich es, dass wir uns heute wieder einmal mit dieser Frage beschäftigen müssen.

Für uns ist klar, dass der § 175 RStGB des Reichstagsgesetzbuches und die Verschärfung, die durch den Nationalsozialismus durchgesetzt worden ist, zu typischem NS-Unrecht gehören. Ich hatte im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit Gelegenheit, Urteile aus der NS-Zeit zu lesen. Das, was Sie vorhin angesprochen haben, Frau von Renesse, lugte aus jedem einzelnen Wort hervor, nämlich der pure Vernichtungswille, der pure Wille, sich mit einer Person überhaupt nicht zu beschäftigen 

(Margot von Renesse [SPD]: Schon gar nicht mit der Tat!)

– Ja –. Es war der pure Vernichtungswille, der dazu führte, dass Urteile verhängt wurden, die außerhalb jeder Vernunft und außerhalb jeder Akzeptanz sind. Deshalb begrüße ich es, dass wir darüber nachdenken, wie wir mit diesem Unrecht umgehen.

Wir haben vor ein paar Jahren das Aufhebungsgesetz verabschiedet. Damals ist darüber diskutiert worden, inwieweit das ausreichend ist. Wir als F.D.P. hätten uns durchaus mehr vorstellen können. Eines allerdings hat mich überrascht: Beide Vertreter der Koalition haben angedeutet, dass sie in Richtung einer generellen Aufhebung gehen. Wenn das Ihre Auffassung ist, wundert es mich aber, dass Sie hier nicht einen entsprechenden Antrag, sondern lediglich einen Prüfantrag eingebracht haben. Ich denke, das wäre konsequent gewesen. 

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.] sowie bei der PDS)

Ich glaube, man sollte hier nicht große Ankündigungen machen, wenn die Antragslage dann weit dahinter zurückbleibt. Aber ich will das nicht zum Streitpunkt machen, weil ich denke, dass es uns allen nicht nützt, wenn wir das tun. Ich glaube sogar, dass es sehr wichtig ist, hier zu einer breiten politischen Übereinstimmung zu kommen. Deshalb will ich für meine Fraktion signalisieren, dass wir zu diesen Gesprächen bereit sind. 

Ich persönlich neige sehr stark zu einer generellen Aufhebung, nämlich weil das, was Sie vorhin angesprochen haben, Herr Gehb, zutreffen wird: Wir werden kein Urteil finden, das rechtsstaatlichen Maßstäben entspricht. Die Wahrscheinlichkeit dafür wird so gering sein, dass sich nach meiner Auffassung eine generelle Aufhebung geradezu aufdrängt. 

Aber auch das Problem, wie wir mit der Zeit nach 1945 umgehen, wird nicht ganz leicht zu lösen sein. Es gibt in diesem Zusammenhang Urteile, die die Lebensperspektive von vielen Menschen zerstört haben. Diese Konsequenz ist nicht deswegen eingetreten, weil sie irgendetwas getan haben, worüber man diskutieren kann, sondern sie ist deswegen eingetreten, weil Menschen sich geliebt haben. Ich denke, dass wir gut beraten sind, auch hier einen Weg zu finden, wobei ich gestehen muss, dass ich ähnliche Fragen wie Herr Gehb habe, und zwar vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir auch in anderen Bereichen in den 50er-Jahren Moralvorstellungen, aber auch Urteile hatten, bei denen wir heute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. 

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben den Kuppeleiparagraphen und viele andere Urteile genannt. Es sind für kleinste Vergehen hohe Freiheitsstrafen verhängt worden, die dann auch verbüßt werden mussten. Aber bei all den Verurteilungen gibt es einen Unterschied: Die Verurteilungen nach § 175 des Strafgesetzbuches wirkten sich sehr viel intensiver auf Berufschancen, auf Lebenschancen und viele andere Dinge aus, sodass von daher sicherlich eine unterschiedliche Behandlung geboten ist. Ich bin froh, dass wir wieder darüber diskutieren, einen neuen Anlauf unternehmen und neue Chancen bekommen. Ich glaube, die Sache ist es wert. 

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)
  

Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.

Christina Schenk (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte über den Umgang mit Opfern des § 175 sowohl zu nationalsozialistischer Zeit als auch in der Nachkriegszeit ist von der PDS auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt worden. Der Grund ist folgender: Der Bundestag hat 1998 beschlossen, typisch nationalsozialistische Urteile als Unrecht anzuerkennen und per Gesetz aufzuheben. Mit diesem Gesetz sollte ein Schlussstrich unter das Justizunrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogen werden. Das ist – so muss man leider konstatieren – nicht gelungen. Die konservative Mehrheit des Bundestages – genauer gesagt: die CDU/CSU-Fraktion – hat verhindert, dass auch die Urteile nach dem berüchtigten Schwulen-Paragraphen 175 und 175a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches, zu einen Bestandteil der Liste im Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile wurden. 

In der Praxis muten wir es bis heute den betroffenen Opfern zu, in Einzelfallverfahren bei der Staatsanwaltschaft überprüfen zu lassen, ob ihnen in ihrem speziellen Fall nationalsozialistisches Unrecht angetan wurde. Ich halte das für unzumutbar und freue mich darüber, dass offensichtlich auf mehreren Seiten die Bereitschaft besteht, hier etwas zu ändern. Die Pflicht zur Einzelfallprüfung unterstellt ja, dass es Verurteilungen nach diesen Paragraphen gab, die nicht unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit und unter Verletzung der Menschenwürde erfolgten. Damit wird auch geleugnet, dass die in § 175 und § 175a Nr. 4 sanktionierte strafrechtliche Verfolgung Homosexueller ein Teil der Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie war.

Die PDS fordert in ihrem Antrag, dass die entsprechenden Urteile, auf die ich verwiesen habe, als typisch nationalsozialistische Unrechtsurteile anerkannt und generell aufgehoben werden.

(Beifall bei der PDS)

Ich meine, das ist das Mindeste, was die Bundesregierung tun muss, wenn sie will, dass ihre Aussage, sie wolle der Diskriminierung von Homosexuellen ein Ende bereiten, noch ernst genommen werden soll. Die Ehre der Opfer muss endlich wieder hergestellt werden und die Betroffenen sind zu entschädigen. Das geschieht spät; für die meisten Opfer ist es schon zu spät.

Es ist durchaus zu begrüßen, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgestern zur heutigen Debatte noch schnell einen Antrag zur Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen vorgelegt haben. Leider bleibt der jetzige Antrag weit hinter den Forderungen der Grünen aus der letzten Legislaturperiode zurück. 

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist allerdings richtig!)

Damals wurde noch eine umfassende rechtliche und moralische Rehabilitierung sowie eine finanzielle Entschädigung der Opfer gefordert. Jetzt wird lediglich verlangt, der Bundestag möge sein Bedauern aussprechen. Ich meine, das reicht nicht aus.

(Beifall bei der PDS und der F.D.P. – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Antrag steht noch viel mehr! Lesen Sie ihn einmal!)

Es kommt noch schlimmer: Die Bundesregierung wird gebeten zu prüfen, ob die jetzige Praxis der Einzelfallprüfung ausreichend ist. Nachdem sie schon anderthalb Jahre regiert, ist das peinlich. Das hätte man längst tun können. 

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Sonst tun sie auch nichts! Insofern ist das kein Wunder!)

De facto wird mit dem Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen indirekt die jetzige Praxis der Einzelfallprüfung legitimiert. Sie fallen damit den Opfern und ihren Angehörigen in den Rücken. Das muss man so klar sagen. 

(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sehr bedauerlich!) 

Enttäuschend ist auch, dass sich in Ihrem Antrag keine Forderung nach kollektiven Entschädigungsleistungen mehr findet. Die Homosexuellen-Verfolgung der Nazis – das haben Sie ja auch gesagt – richtete sich nicht nur gegen einzelne Personen, zerstört bzw. zerschlagen wurde die gesamte soziokulturelle Infrastruktur von Lesben und Schwulen in der damaligen Zeit. Die PDS-Fraktion fordert deshalb die Einrichtung einer öffentlich finanzierten Stiftung als eine Form der kollektiven Wiedergutmachung an den Lesben und Schwulen. 

Die strafrechtliche Verfolgung – Sie wissen das – von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung war nach 1945 nicht zu Ende.
  

Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Schenk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Christina Schenk (PDS): Aber bitte.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin, bevor hier falsche Dinge über die Antragslage in Umlauf geraten, frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in Punkt IV Ziffer 2 die Frage der kollektiven Schädigung, also die Vernichtung der Einrichtungen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung angesprochen, ein Bericht der Bundesregierung zu dem Umfang dieser Vorgänge eingefordert und die Bundesregierung ersucht wird,

 "gegebenenfalls Vorschläge zu entwickeln, wie Lücken bei der Entschädigung, Rückerstattung und beim Rentenschadensausgleich für homosexuelle NS-Opfer geschlossen werden können",

 also auch die juristischen Personen in diesem Zusammenhang mit eingeschlossen werden, dass damit Ihr Petitum, das Sie ja dankenswerterweise bis ins Detail aus unserer Vorlage von 1995 übernommen haben, aufgenommen wurde und wir diese Fragen mit der Bundesregierung im Ausschuss auf der Grundlage dieses Antrages diskutieren wollen?

Christina Schenk (PDS): Herr Beck, ich nehme zur Kenntnis, dass ein Bericht – Sie haben es vorgelesen – gefordert wird und dazu aufgefordert wird, gegebenenfalls Vorschläge zu entwickeln. Herr Beck, Sie waren in der letzten Legislaturperiode schon sehr viel weiter.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist richtig, ja!)

Sie werfen uns vor, dass wir aus Ihrem Antrag aus der damaligen Zeit abgeschrieben haben. Das ist im Übrigen nicht wahr. Wahrscheinlich kennen Sie Ihren eigenen Antrag nicht mehr. Also, es bleibt bei der skandalösen Situation, dass Sie lediglich einen Bericht einfordern, statt hier endlich Taten sprechen zu lassen. Es ist wirklich schwach – gerade für die Bündnisgrünen –, das hier auch noch verteidigen zu wollen. 

(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Herr Gehb, vielleicht wird es für Sie jetzt besonders interessant. Ich möchte – möglicherweise ist das hier nicht allen klar – noch Folgendes sagen. Die DDR ist bereits 1950 zur Weimarer Fassung des § 175 zurückgekehrt, der wurde auch nur noch bis 1958 angewandt wurde. Er stand zwar bis zur Strafrechtsreform 1968 noch im Strafgesetzbuch der DDR, aber angewandt wurde er nur bis 1958. Die Verfolgungsintensität und auch die Zahl der Verurteilungen waren außerordentlich gering. Es handelte sich um einige Hundert Fälle. 

In der Bundesrepublik hingegen wurden Schwule nach der nationalsozialistischen Fassung des § 175 bis 1969 strafrechtlich verfolgt. Das war ein eklatanter Verstoß gegen das Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Das unterscheidet diesen Fall auch von anderen Fällen, die Sie Herr Gehb, hier angeführt und, von denen Sie gesagt haben, dass sich natürlich die Auffassung zu bestimmten Strafrechtsparagraphen ändern kann und man nicht in jedem Fall eine Entschuldigung des Bundestages verlangen kann. Aber hier handelt es sich von Anfang an um die Verletzung von Menschenrechten. Das war schon damals Unrecht. Deswegen ist es eine andere Situation. 

Die Zahl der Verurteilten überstieg sogar noch die in der NS-Zeit. Es handelt sich um 50 000 bis 60 000 Fälle. Das muss man sich einmal vorstellen! Hier geht es nach unserer Auffassung darum, die Strafen aus dem Strafregister zu tilgen und die Betroffenen zu entschädigen, so wie es der zweite Antrag der PDS hier vorsieht. 

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Wiedergutmachung – das muss hier klar sein – ist nicht zum Nulltarif zu haben. Es reicht nicht aus, wenn der Bundestag lediglich sein Bedauern ausdrückt, wie es eben der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen fordert.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Den Opfern der Homosexuellenverfolgung in der Nazi- und auch in der Nachkriegszeit gerecht zu werden, heißt, sie rechtlich und moralisch zu rehabilitieren und angemessen zu entschädigen. Erst dann kann ein Schlussstrich unter das leidvolle Kapitel der Homosexuellenverfolgung in Deutschland gezogen werden. 

Danke.

(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/2619 und 14/2620 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2984 (neu) zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –

Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. April 2000, 13 Uhr ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, die bis zum Schluss ausgeharrt haben, ein erholsames – wenn auch sicherlich arbeitsreiches – Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen. 

(Schluss: 15.34 Uhr)

 


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