5.1.
In den Erläuterungen von 2010 wird gesagt, dass das Redaktionskomitee den Ausschluss von MSM nicht neu bewertet, sondern nur eine Umformulierung vorgenommen habe, um den diskriminierenden Anschein der bisherigen Formulierungen zu entkräften. Eine grundsätzliche Überarbeitung der Richtlinie solle zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen werden.
Die Beschreibung „Männer, die Sexualverkehr mit Männern haben (MSM)“ ist wissenschaftlich korrekt und zutreffender als die frühere Beschreibung „homo- und bisexuelle Männer“. Von der Umformulierung werden auch Männer erfasst, die sich selbst als heterosexuell definieren, aber gleichwohl hin- und wieder Sexualverkehr mit Männern haben. Diese Männer sind als Spender problematisch, weil sie von den Aufklärungsmaßnahmen der AIDS-Hilfen nicht immer erreicht werden.
Eine grundsätzliche Neufassung der Richtlinie ist bisher nicht erfolgt. Der „Lesben- und Schwulenverband in Deutschland“ hat dazu der Bundesärztekammer am 26.01.2011 eine Stellungnahme übersandt. Den Brief hat die Bundesärztekammer nicht beantwortet.
5.2.
Die heute angewandten Tests zur Überprüfung von Blutprodukten sind sehr zuverlässig, können aber wegen des sogenannten diagnostischen Fensters Neuinfektionen nicht feststellen. Mit der diagnostischen Fensterphase wird die Zeit ab der Infektion bis zu ihrer Nachweisbarkeit bezeichnet. Sie belief sich früher auf mehrere Monate, ist aber inzwischen auf zwei bis drei Wochen verkürzt worden.
Trotzdem wird durch die heute angewandten Testmethoden eine sehr hohe Sicherheit der Blutprodukte erreicht. Zwischen 2000 und 2008 wurden in Deutschland fünf HIV-Übertragungen durch Transfusionen gemeldet. Seitdem sind keine Neuinfektionen mehr bekannt geworden. Die Spender, die die Neuinfektionen verursacht haben, hatten sich durch Sexualkontakte infiziert. Zwei Spender hatten Sexualkontakte mit Männern, ein Spender hatte heterosexuelle Sexualkontakte und zwei Personen sexuelle Kontakte zu Personen aus Hochprävalenzländern. Dabei handelt es sich offenbar um heterosexuelle Sextouristen. Sonst hätte man sie der Gruppe der MSM zugerechnet.
Somit haben Männer, die Sex mit Männern haben, seit 2000 weniger Neuinfektionen verursacht als Personen mit heterosexuellen Sexualkontakten.
Demgegenüber wird immer wieder darauf hingewiesen, dass HIV-Neuinfektionen bei MSM im Vergleich zu heterosexuellen Männern ca. 100fach häufiger sind. Das hat sich aber auf die Anzahl der Neuinfektionen durch infizierte Blutspender nicht ausgewirkt.
5.3.
Es fragt sich deshalb, ob es tatsächlich zu Mehrinfektionen durch MSM käme, wenn diese nicht mehr generell von Blutspenden ausgeschlossen werden, sondern wie heterosexuelle Personen nur noch bei sexuellem Risikoverhalten.
Insoweit fällt zunächst auf, dass auf Seite 12 der Erläuterungen gesagt wird:
"Die erhöhte Rate von HIV-Neuinfektionen innerhalb der Gruppe der MSM ist nicht in der sexuellen Orientierung dieser Personen, sondern in der hohen Zahl der Sexualkontakte mit verschiedenen Partnern und im spezifischen Sexualverhalten (Analsex und oraler Sex zwischen Männern) begründet.“
Das überrascht. Ob es zu HIV-Neuinfektionen kommt, hängt nicht von der Zahl der Sexualkontakten und dem spezifischen Sexualverhalten ab, sondern allein davon, ob das Sexualverhalten SAFE oder UNSAFE ist.
Eine weitere unrichtige Aussage steht auf Seite 7 der Erläuterungen. Dort wird gesagt.
"Die im Blutspendewesen erzielten Erfolge zur Minimierung des Risikos einer Übertragung von Infektionskrankheiten beruhen wesentlich auf dem Ausschluss von Risikogruppen."
Auch auf den Seiten 9, 10 und 14 der Erläuterungen ist vom „Ausschluss von Risikogruppen“ bzw. „risikobehafteter Personengruppen“ die Rede. Damit wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen als Risiko betrachtet (die Gruppe der MSM), anstatt zutreffender ein bestimmtes Verhalten als Risiko zu bewerten (ungeschützter Sexualverkehr).
Als Folge dieser unrichtigen Vorstellungen ist der Risikoausschluss von heterosexuellen Personen in den Richtlinien falsch formuliert worden. Dort wird der Begriff „sexuelles Risikoverhalten“ durch den Zusatz erläutert „z.B. Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern“. Tatsächlich kommt es aber nicht darauf an, ob der Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern häufig oder selten stattgefunden hat, sondern allein darauf, ob er ungeschützt war oder nicht.
Der Risikoausschluss bei heterosexuellen Personen muss deshalb richtig lauten: "heterosexuelle Personen mit sexuellem Risikoverhalten, z.B. ungeschützter Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern."
Genauso kann der Risikoausschluss bei MSM formuliert werden mit der Folge, dass Heterosexuelle und MSM zusammengefasst werden können, also: "Personen mit sexuellem Risikoverhalten, z.B. ungeschützter Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern".
Bei dieser Formulierung wird zwar, wie schon bisher bei den Heterosexuellen, das Partnerrisiko nicht erfasst. Damit ist die Möglichkeit gemeint, dass sich ein Blutspender bei seinem untreuen Partner infiziert und dann binnen weniger Tage zur Blutspende geht, so dass die Infektion dort wegen des diagnostischen Fensters nicht entdeckt wird. Aber in den letzten 25 Jahren ist noch kein derartiger Fall bekannt geworden. Das theoretische Risiko kann deshalb vernachlässigt werden.
5.4.
In den Erläuterungen wird mit Recht darauf hingewiesen, dass die Richtigkeit der Angaben von Spendewilligen durch den Spendearzt nicht überprüft werden kann.
Wenn heterosexuelle Spender sexuelles Risikoverhalten verschweigen oder Männer, den Sexualverkehr mit Männern geschieht das aus unterschiedlichen Motiven.
- Es gibt Spender, die sich aus Protest über den Dauerausschluss von MSM hinwegsetzen oder aus altruistischen Motiven zur Spende kommen. Bei ihnen kann man davon ausgehen, dass sie über das Risiko von Infektionen beim Sexualverkehr mit Männern ausreichend informiert sind, sich entsprechend verhalten und deshalb unbedenklich zur Blutspende zugelassen werden könnten.
- Andere setzen sich über den Dauerschluss von Heterosexuellen mit sexuellem Risikoverhalten und von MSM hinweg, um sich kostenlos auf HIV testen zu lassen. Diese Spender sind problematisch, weil sie sich in der Regel beim Sexualverkehr nicht ausreichend geschützt hatten und sich deshalb vergewissern wollen, ob sie sich angesteckt haben. In den Erläuterungen wird darauf hingewiesen, dass es sinnvoll sein könnte, für solche Personen kostenlose niedrigschwellige Testmöglichkeiten anzubieten.
Das geschieht inzwischen bei den MSM durch viele AIDS-Hilfen. Sie werben dafür, sich testen zu lassen und bieten in der Szene kostenlos Testmöglichkeit an. - Eine dritte Gruppe von Spendern setzt sich über den Dauerschluss von Heterosexuellen mit sexuellem Risikoverhalten und von MSM hinweg, weil sie das Geld brauchen, das die Blutspendedienste den Spendern zahlen. Es ist zu vermuten, dass zumindest ein Teil dieser Personen als Spender problematisch ist.
Dieses Problem wird in den Erläuterungen nicht angesprochen, obwohl es auf der Hand liegt, dass das Risiko einer Übertragung von Infektionskrankheiten verringert würde, wenn den Spendern nichts mehr gezahlt würde. Das will man offensichtlich nicht, weil man befürchtet, dass dann zu wenige Leute bereit wären, Blut zu spenden.
5.5.
In den Erläuterungen wird daraufhin gewiesen (Seite 12), dass „eine individuelle Anamnese des praktizierten Sexualverhalten nach Aussage der Blutspendedienste im Kontext der Blutspende nicht durchführbar“ sei. Das ist nicht nachvollziehbar. Die Safe-Sex-Regeln sind einfach und klar definiert. Sie lassen sich ohne weiteres mit Fragebögen abfragen.
5.6. Ergebnis
In den Erläuterungen wird betont, „dass ein Beratungsprozess zur Erarbeitung einer langfristig tragfähig Lösung kurzfristig initiiert werden soll“ (Seite 17). Das ist bisher nicht geschehen, obwohl inzwischen drei Jahre vergangen sind.
Die Erläuterungen des Arbeitskreises „Richtlinien Hämotherapie“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammern lassen vermuten, dass an der Beratung der Richtlinien und an der Formulierung der Erläuterungen keine Wissenschaftlicher mit dem Fachgebiet Prävention mitgewirkt haben, sondern nur Ärzte ohne spezielle Kenntnisse auf dem Gebiet der Prävention.
Der Ausschluss heterosexueller Personen mit sexuellem Risikoverhalten ist falsch formuliert und der generelle Ausschluss von MSM ist so nicht notwendig. Es reicht aus, alle Personen auszuschließen, die ungeschützten Sexualverkehr mit wechselnden Partnern haben.
Wir fordern demgemäß
- dass der Beratungsprozess zur Überprüfung der Richtlinien Hämotherapie bald aufgenommen wird,
- dass an dem Beratungsprozess auch Wissenschaftler mit dem Fachgebiet Prävention beteiligt werden und
- dass überprüft werden soll, ob der bisher unterschiedlich formulierte Ausschluss von Heterosexuellen und MSM durch einen generellen Ausschluss aller Personen ersetzt werden kann, die ungeschützten Sexualverkehr mit wechselnden Personen haben.
Die neuen Erläuterungen von 2012 enden mit folgender Empfehlung:
"19.5 Empfehlungen der gemeinsamen Arbeitsgruppe
Unter Abwägung der Infektionsrisiken und der angeführten Argumente für die Beibehaltung eines Dauerausschlusses bzw. zur Umstellung auf eine zeitlich befristete Rückstellung von der Blutspende empfiehlt die gemeinsame Arbeitsgruppe, dass der dauerhafte Ausschluss von der Blutspende infolge Sexualverhaltens mit hohem Risiko (vgl. 19.1) in eine zeitlich befristete Zurückstellung für 1 Jahr geändert werden sollte. Für die Risiken nach 19.2 wird weiterhin eine Rückstellung für 4 Monate empfohlen (Hervorhebung nicht im Original).
Nach Maßgabe der Richtlinie 2004/33/EG sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, für Personen mit hohem Risiko einen Ausschluss von der Blutspende vorzusehen. Es bleibt daher durch die dafür Verantwortlichen zu prüfen, ob Vorgaben dieser Richtlinie und andere Vorschriften (Technical Memorandum TS057 Risk behaviours having an impact on blood donor management European Committee (Partial Agrement) on Blood Transfusion (CD-P-TS)) einer Umsetzung dieser Empfehlung in Deutschland entgegenstehen.
Eine weitere zu klärende Frage ist, ob nach einer Umstellung auf eine zeitlich befristete Rückstellung in Deutschland gewonnenes Plasma zur Fraktionierung von anderen EU-Mitgliedstaaten weiterhin akzeptiert würde. Nach der Richtlinie 2002/98/EG sind die Mitgliedstaaten berechtigt, „in ihrem Hoheitsgebiet strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder einzuführen, sofern diese in Einklang mit dem Vertrag stehen“. Auch der Austausch von Plasma zur Fraktionierung mit Drittstaaten, wie USA, die aktuell einen Dauerausschluss für MSM beibehalten, könnte betroffen sein. Es wäre ungünstig und schwer begründbar, wenn für Blutkomponenten zur Transfusion auf eine zeitliche Rückstellung von MSM umgestellt, aber für Plasma zur Fraktionierung zur Erhaltung der internationalen Verkehrsfähigkeit weiterhin ein Dauerausschluss praktiziert würde.
Ferner empfiehlt die gemeinsame Arbeitsgruppe ausdrücklich, eine Änderung der Ausschlusskriterien mit einer konzertierten Aufklärungskampagne zur Verbesserung der Adhärenz zu verbinden. Dazu gehört auch die Einführung eines leicht verständlichen, bundesweit einheitlichen Anamnesebogens für Blutspender. Die Intention dieser Empfehlung ist ausdrücklich nicht eine „Lockerung“ der Ausschlusskriterien, die zu einer Erhöhung des Infektionsrisikos für Empfänger von Bluttransfusionen führen könnte. Vielmehr zielt die Empfehlung auf eine Anpassung der Regelungen der Hämotherapie-Richtlinien an den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft, um die bisher erreichte Reduktion des Infektionsrisikos für Empfänger von Bluttransfusionen zu erhalten und nach Möglichkeit noch weiter zu verbessern.