"Wie ein mächtiger Wutschrei"
Die Geschichte eines schwul-lesbischen Feiertages
Von Hans-Georg Stümke (16.9.1941 - 29.9.2002)
Das "Stonewall-lnn" an der New Yorker Christopher Street im Jahre 1969.
Eine billige Kneipe, in der man für drei Dollar Eintritt die ganze Nacht
über bleiben und sich mit einem Getränk begnügen kann.
Das macht die Kneipe hauptsächlich für junge Leute attraktiv. In der Nacht
zum Samstag, 28.Juni, findet in den ersten Morgenstunden eine
Polizei-Razzia statt, wie sie in New Yorker Szene-Treffs in dieser Zeit
Gewohnheit ist: Streifenwagen fahren vor, Polizisten springen heraus,
besetzen die Ein- und Ausgänge und stürmen dann ins Innere des Lokals.
Etwa 200 Gäste zählt das Stonewall zu dieser Stunde. Jeder einzelne wird
von den Cops gefilzt und auf die Straße geschoben. Wer in den
Szene-Lokalen verkehrt, muss mit derlei unangenehmen Zwischenfällen
rechnen.
Und doch ist diesmal alles anders. Während sich die LokalbesuherInnen bei
ähnlichen Razzien eingeschüchtert davonschlichen - bemüht, ihre Anonymität
zu wahren - und die Vertreibung durch die Staatsmacht ohnmächtig duldeten,
bleiben sie diesmal vor der Tür ihres Lokals stehen. Sie schimpfen,
diskutieren, protestieren, machen ihrem Unmut über die Vertreibung mit
deftigen Worten Luft. Schwule und lesbische Passanten auf der Christopher
Street gesellen sich dazu.
Erste Rufe wie "Weg mit den Bullen!", "Bullen raus!" setzen ein.
Inzwischen ist die Menge auf rund 500 Personen angewachsen, doch die
Szenerie bleibt zunächst noch friedlich. Das ändert sich jedoch, als
plötzlich drei weitere Streifen- und ein Mannschaftswagen eintreffen.
Mehrere Cops springen heraus, greifen sich zwei Angestellte des Stonewall
und drei Tunten im Fummel aus der Menge und stoßen sie in den
Mannschaftswagen. Augenblicklich setzt ein gewaltiges Pfeifkonzert ein.
Rufe wie "Scheiß Bullen!" und "Befreit die Gefangenen!" werden zahlreicher
und die Stimmung militanter. Hunderte umringen die Polizeiautos, drohen
mit Fäusten, versuchen die Wagen umzukippen und die Verhafteten zu
befreien. Die Cops, auf Widerstand nicht vorbereitet, springen in ihre
Autos und brausen davon. Das macht den Widerständlern Mut, vertreibt das
Gefühl der Ohnmacht. Ein Handgemenge setzt ein.
Unterstützt von einem gewaltigen Pfeifkonzert und dem brodelnden
Protestlärm der Menge, greifen jetzt immer mehr Schwule und Lesben zu
harten Gegenständen, Münzen, Bierdosen und Steinen, um sie gegen die
Polizisten zu schleudern. Zugleich erreichen die aus der Menge gerufenen
Parolen eine neue Qualität. "Schlagt die Bullen zusammen!", "Befreit das
Stonewall!". Die vor dem Stonewall stehenden Polizisten, darunter der
Leiter der Razzia, Polizeiinspektor Pine, werden ängstlich.
Ein Reporter steht an diesem Abend zusammen mit Pine vor dem Eingang des
Stonewall lnn. Das weitere Geschehen beschreibt er am 3. Juli 1969 in der
Zeitung "Village Voice":
"Pine sagt: ,Wir müssen reingehen, uns drinnen einschließen, das ist
sicherer.' Ich gehe mit. Wir schließen die schwere Tür. Die Front des
Stonewall besteht größtenteils aus Ziegelsteinen, ausgenommen die Fenster,
die von innen mit Sperrholz geschützt sind. Drinnen hören wir das Rütteln
an den Fenstern, gefolgt von Geräuschen, die von an die Tür geworfenen
Ziegelsteinen stammen müssen. Wir hören aufgebrachte Stimmen."
Draußen, auf der Christopher Street, hat inzwischen die militante Stimmung
weiter zugenommen. Die Parole "Stürmt das Stonewall!" setzt sich bei jenen
durch, die vorne stehen. Jemand greift einen Mülleimer und schlägt damit
ein Fenster ein. Mehrere versuchen, eine Parkuhr aus der Verankerung zu
reißen, um sie als Rammbock gegen die Tür ein- zusetzen. Es gelingt. Rufe
von weiter hinten Stehenden feuern sie an.
Aus der Sicht der Belagerten berichtet der Reporter weiter: "Plötzlich
springt die Tür auf. Bierdosen und Flaschen poltern herein. Während Pine
und seine Leute versuchen, die Tür wieder zu schließen, wird ein Polizist
am Auge verletzt. Er jammert laut, aber es sieht schlimmer aus, als es
ist. Sie alle haben plötzlich Angst bekommen. Drei laufen nach vorn, um
die Menge von der Tür aus zu beruhigen. Ein Münzhagel ist die Antwort.
Eine Bierdose schlägt gegen den Kopf von Polizeiinspektor Smith. Pine
sammelt sich, springt hinaus ins Getümmel, greift jemandem um die Taille,
zieht ihn nach hinten und schleift ihn in den Flur. Inzwischen ist es
gelungen, die Tür wieder zu schließen. Der Hereingezogene wird von
wütenden Polizisten umringt, die ihre Wut an ihm auslassen. Pine sagt zu
ihm: ,Ich habe gesehen, wie Sie etwas geworfen haben!'. Unglücklicherweise
antwortet der Gefasste und sagt: ,Nur einige Münzen!' Der Polizist, der
kurz vorher einen Wurf abbekommen hat, gerät in Wut, schreit etwas wie:
,Dann warst du es, der mich verletzt hat!'. Und während die anderen
Polizisten ihn dabei unterstützen, prügelt er fünf-, sechsmal auf den
Gefangenen ein. Sie schlagen selbst dann noch auf ihn ein, als er schon
fix und fertig ist.
Draußen, vor dem Stonewall, ist eine neue Parole aufgekommen. Sie heißt "Roast
the pigs alive!" und zugleich geht der Ruf nach Benzin durch die Menge.
Die im Lokal eingeschlossenen Polizisten fangen an, durchzudrehen. Jetzt
gibt die Tür an der Seite nach. Ein Polizist schreit ,Verschwindet oder
ich schieße!'. Für eine kurze Zeit hört das Rütteln auf.
Auf einmal ist die Eingangstür völlig offen. Gleichzeitig fällt mit lautem
Getöse eines der Sperrholzfenster herunter und es scheint unvermeidlich,
dass die Menge hereinströmt. Alle Polizisten ziehen ihre Pistolen.
Sie zielen auf die Tür. Ich höre, wie einer der Polizisten sagt: ,Ich
knalle den ersten Motherfucker ab, der durch die Tür kommt!'"
Durch ein zerbrochenes Fenster wird Benzin ins Innere des Stonewall
geschüttet und angezündet. In das Brausen der Flammen mischen sich von
Ferne die Sirenen der herbeigeholten Polizeiverstärkung. Ein großes
Aufgebot erreicht die Christopher Street und das Stonewall. Die Cops
beginnen, wild auf die Menge der Schwulen und Lesben einzuprügeln.
Es gelingt ihnen, die Demonstranten abzudrängen und das Feuer zu löschen.
Dieser Teil der "Stonewall-Rebellion" dauert ganze 45 Minuten. Es gibt
mehrere Verletzte. Dreizehn Personen werden verhaftet. Wie ein Lauffeuer
verbreitet sich die Kunde in der Szene, dass sich die Gays zu wehren
begonnen haben. Als am nächsten Tag viele Schwule und Lesben vor das
Stonewall ziehen, um den Ort des Aufbruchs zu besichtigen, finden sie dort
eine Menge Kreideinschriften an den Wänden: "Support gay power!", "Drag
power!", "They invaded our rights", "Gay is good" und immer wieder "Gay
Power!". Noch mehrere Tage lang kommt es auf der Christopher Street zu
militanten Auseinandersetzungen zwischen Schwulen, Lesben und der Polizei.
Auch der schwule Poet Allen Ginsberg besucht die Christopher Street. "Wir
sind eine der größten Minderheiten im Lande", sagt er. "Es wurde höchste
Zeit, dass wir was tun, um uns durchzusetzen."
In jener Nacht sprang ein Funke aus dem Stonewall auf die Christopher
Street. Von dort ging er um die ganze Welt.
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