Deutscher Bundestag
14. Wahlperiode
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Drucksache 14/2620
27.01.2000
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Antrag
der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke,
Sabine Jünger, Dr. Evelyn Kenzler, Heidemarie Lüth,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Rehabilitierung und Entschädigung für die
strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher
gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen
Erwachsenen in der Bundesrepublik Deutschland und der
Deutschen Demokratischen Republik
Der Bundestag wolle beschließen:
- Der Deutsche Bundestag stellt fest:
- Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als
auch in der Deutschen Demokratischen Republik
wurden Erwachsene wegen einvernehmlicher
gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen
strafrechtlich verfolgt. Dies hat die Freiheit
und die Würde der Betroffenen, ihre
Entfaltungsmöglichkeiten und ihre Lebensqualität
empfindlich beeinträchtigt. Nach heutiger
Erkenntnis wurde ihr Grundrecht auf sexuelle
Selbstbestimmung verletzt.
- Völlig unverständlich und deshalb besonders
kritikwürdig ist die Tatsache, dass in der
Bundesrepublik Deutschland bis 1969 sogar die
strafverschärfende, nationalsozialistische
Fassung der §§ 175 und 175a im Strafrecht in
Kraft blieb.
- Der Deutsche Bundestag bedauert, dass das
Grundrecht der Bürger auf freie sexuelle
Selbstbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland
und in der Deutschen Demokratischen Republik dadurch
und so lange verletzt wurde, als einvernehmliche
gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen
Erwachsenen mit Strafe bedroht waren.
- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung
auf, durch Vorlage eines Gesetzentwurfs und durch
Erlass von Verwaltungsvorschriften sicherzustellen:
- dass noch im Bundeszentralregister
eingetragene Vorstrafen wegen einvernehmlicher
gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen
zwischen Erwachsenen unverzüglich getilgt
werden;
- dass Bürgern, die für einvernehmliche
gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen
zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik
Deutschland oder in der Deutschen Demokratischen
Republik strafrechtlich verfolgt wurden, unabhängig
von der Höhe und Dauer der Strafe eine
einmalige Entschädigung gezahlt wird. Der
entsprechende Anspruch soll nicht übertragbar,
insbesondere nicht vererbbar sein.
Berlin, den 27. Januar 2000
Christina Schenk
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Dr. Evelyn Kenzler
Heidemarie Lüth
Dr. Gregor Gysi und Fraktion
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Begründung
Vor 30 Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland
ein bis dahin bewahrtes Relikt der Nazi-Zeit beseitigt:
Die Strafrechtsreform vom 1. September 1969 revidierte
die immer noch geltende Fassung der §§ 175 und 175a
StGB aus der NS-Zeit. In wenigen Bereichen staatlichen
Handelns tat sich die Bundesrepublik Deutschland so
schwer, nationalsozialistische Traditionen zu überwinden,
wie gegenüber homosexuellen Bürgern. Der 1935 verschärfte
§ 175 StGB blieb ebenso wie der eingefügte § 175a
StGB bis 1969 unverändert in Kraft. 1957 stufte das
Bundesverfassungsgericht beide Paragrafen in der Fassung
von 1935 als "ordnungsgemäß zustandegekommen"
und nicht "in dem Maße nationalsozialistisch geprägtes
Recht" ein, "das (ihnen) in einem freiheitlich
demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse"
(BVerfGE 6, 389, 413 ff., 418). Noch der
Regierungsentwurf E 1962 eines Strafgesetzbuches
(Drucksache 4/650) sprach in der Begründung für die
vorgesehene Bestrafung von "Unzucht zwischen Männern"
unter Weiterverwendung der nationalsozialistischen
Diktion von einer "Entartung des Volkes" und
dem "Verfall seiner sittlichen Kräfte". 1963
konnte daher der Religionshistoriker, Prof. Dr.
Hans-Joachim Schoeps, den bitteren Satz formulieren:
"Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch
nicht zu Ende" (Schoeps, Hans-Joachim: Der
Homosexuelle Nächste, Hamburg, 1963, S. 86). Allein in
den ersten 15 Jahren ihrer Existenz wurden in der
Bundesrepublik Deutschland über 100 000
Ermittlungsverfahren nach § 175 StGB eingeleitet, 59
316 homosexuelle Männer wurden in den Jahren 1950 bis
1969 verurteilt.
In der Strafverfolgungspraxis der SBZ spielten in den
Nachkriegsjahren Homosexuelle so gut wie keine Rolle.
Die DDR bewertete 1950 die 1935 erfolgte Verschärfung
des § 175 als "Bestandteil nationalsozialistischer
Bevölkerungspolitik" und kehrte zur Weimarer
Fassung zurück. Eine Anerkennung verfolgter
Homosexueller als Opfer des NS-Regimes war damit jedoch
nicht verbunden. Der § 175a wurde in der Fassung von
1935 beibehalten. Trotz Kenntnis seiner exzessiven
Anwendung während der Nazi-Diktatur urteilte das
Kammergericht Berlin, dass der § 175a den Gedanken
"eines notwendigen Schutzes der Gesellschaft gegen
sozialschädliche homosexuelle Handlungen qualifizierter
Art (verwirklicht) und …daher keinen nazistischen
Inhalt (habe)." (Nach Grau, Günter: Sozialistische
Moral und Homosexualität, in: Grumbach, Detlef [Hrsg.]:
Die Linke und das Laster, Hamburg, 1995, S. 85–141,
hier S. 98). Insgesamt blieb die Verfolgungsintensität
eher gering – genaue Zahlen liegen jedoch nicht vor.
Die Lebenschancen lesbischer und schwuler Menschen waren
jedoch ebenfalls massiv eingeschränkt: "Es war
weniger die Furcht vor juristischer Verfolgung, als
vielmehr die Angst vor administrativer und
gesellschaftlicher Diskriminierung, aus der heraus
homosexuelle Männer und Frauen in der DDR alles taten,
um sich zu tarnen, um im Beruf oder in der Öffentlichkeit
nicht aufzufallen." (vgl. Grau, Günter, a.a.O., S.
121). 1968 wurden die §§ 175 und 175a im
Strafgesetzbuch der DDR gestrichen. Homosexualität
zwischen Erwachsenen war danach straffrei.
1988 wurde in der DDR, in der Bundesrepublik
Deutschland erst 1994 die Sonderbehandlung von
Homosexualität im Strafrecht vollständig aufgehoben.
Damit wurde akzeptiert, dass homosexuelle Handlungen zur
Intimsphäre von Menschen gehören, keine schädlichen
Wirkungen auf die Gesellschaft haben und ihre Verfolgung
deshalb eine Beeinträchtigung von Grundrechten
darstellt. Inzwischen ist durch die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg
anerkannt, dass eine strafrechtliche Verfolgung
einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen
Erwachsenen menschenrechtswidrig ist (s. EGMR, NJW 1984,
541 [Fall Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich]; EuGRZ
1992, 477 [Fall Norris gegen Irland]; ÖJZ 1993, 821
[Fall Modinos gegen Zypern]).
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Die Rechtsgeschichte kennt häufig den Fall, dass zu
einem bestimmten Zeitpunkt ein Verhalten nicht mehr als
strafrechtswürdig eingeschätzt wird, das bis dahin so
behandelt worden ist. In der Regel erfolgt die Aufhebung
des Straftatbestandes, die Beendigung der Vollstreckung
noch laufender Strafen, aber weder eine Tilgung
entsprechender Vorstrafen noch eine Entschädigung. Dem
liegt zugrunde, dass Bürgerinnen und Bürger zu
respektieren haben, wenn der verantwortliche Gesetzgeber
ein bestimmtes Verhalten unter Strafe stellt. Selbst
wenn der Gesetzgeber später zu der Einschätzung kommt,
ein solches Verhalten nicht mehr unter Strafe zu
stellen, ändert es nichts daran, dass die Betreffenden
zum Zeitpunkt der Tat im Wissen um die Strafbarkeit
handelten und sich damit bewusst über den Willen des
Gesetzgebers hinwegsetzten. Die Ursachen dafür, dass
ein Gesetzgeber sich entscheidet, Handlungen nicht mehr
als strafwürdig anzusehen, die bis dahin strafbar
waren, sind in der Geschichte der Rechtsentwicklung höchst
verschieden. Im Kern geht es aber darum, dass entweder
ein bestimmtes Verhalten in einer veränderten
gesellschaftlichen Situation nicht mehr als für die
Gesellschaft für so gefährlich angesehen wird, dass es
strafrechtlich verfolgt werden müsste. In einem solchen
Fall ändert sich an dem früher gegebenen kriminellen
Charakter eines Verhaltens nichts, denn zum Zeitpunkt
der Tatbegehung und Strafverfolgung sah die
gesellschaftliche Situation anders aus. In anderen Fällen
ändert der Gesetzgeber seine Meinung, weil er ab einem
bestimmten Zeitpunkt ein Verhalten für tolerierbar hält,
das er bis dahin für nicht hinnehmbar erklärte. In
diesen Fällen ändert sich meist nichts an der
kritischen Bewertung des Verhaltens, es wird lediglich
die Frage der Notwendigkeit einer strafrechtlichen
Verfolgung dieses Verhaltens anders beantwortet als früher.
In all diesen Fällen kommt also eine Aufhebung von
Strafbestimmungen infrage, nicht aber eine Tilgung von
Vorstrafen und eine Form von Entschädigung. Das gilt z.
B. auch für die inzwischen abgeschaffte Strafbarkeit
von Erwachsenen für einvernehmliche
gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit
Jugendlichen.
Bei der hier beschriebenen strafrechtlichen
Verfolgung ist die Situation jedoch eine gänzlich
andere. Ein Gesetzgeber und die Rechtsprechung – hier
unter anderem der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg – stellen nachträglich
fest, dass Menschen für die Wahrnehmung eines
Grundrechtes und damit rechtswidrig bestraft wurden. Es
geht nicht einfach darum, dass heute ein Verhalten
anders beurteilt wird als in früheren Zeiten. Vielmehr
steht fest, dass die strafrechtliche Verfolgung auch zum
damaligen Zeitpunkt ein Grundrecht der Betroffenen
verletzt hat. In einem solchen Fall genügt es nicht,
die Strafbestimmungen aufzuheben.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass der
Deutsche Bundestag zunächst sein Bedauern über die
Verletzung des entsprechenden Grundrechtes der
Betroffenen durch Strafverfolgung in der Bundesrepublik
Deutschland und in der DDR zum Ausdruck bringt und,
soweit diesbezügliche Vorstrafen noch heute im
Strafregister eingetragen sind, diese unverzüglich zu
tilgen sind. Dieser Ausnahmefall verlangt zusätzlich,
den Betroffenen wegen Verletzung ihres Grundrechtes,
Verletzung eines Freiheitsrechtes, Beeinträchtigung
ihrer sozialen Existenz und Entwicklungsmöglichkeiten
sowie Zerstörung von Lebensglück eine einmalige
angemessene Entschädigung zu leisten.
Ein Gesetzgeber ist nur dann souverän, wenn er
bereit ist, Konsequenzen aus eigenen Irrtümern zu
ziehen.
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