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Schwulenpolitik in der alten Bundesrepublik

von Manfred Bruns, Sprecher das LSVD

Der Beginn der Schwulenbewegung

Den Beginn der Schwulenbewegung kann man an zwei Ereignissen im Jahre 1969 festmachen:

  1. Die Liberalisierung des § 175 StGB, die am 01. September 1969 in Kraft trat. Sie beseitigte die Strafbarkeit einverständlicher sexueller Handlungen unter erwachsenen Männern.
  2. Die Krawalle Ende Juni 1969 in der Christopher Street im Stadtteil Greenwich Village in New York. Dort hatten sich die Besucher der Homobar "Stone Wall Inn" zum ersten Mal gegen eine Polizeirazzia gewehrt, was zu einer Straßenschlacht führte, die mehrere Tage und Nächte andauerte.

Ich habe bewusst nicht von der "neuen" Schwulenbewegung gesprochen, sondern nur von der "Schwulenbewegung". Denn die Schwulenbewegung hat keinen Vorläufer. Sie ist nicht bloß eine Fortsetzung der ersten deutschen Homosexuellenbewegung, die sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik formiert hatte, sondern etwas Neues. Das wird vor allem an den Selbstbenennungen deutlich. Die frühere Homosexuellenbewegung vermied das Wort "homosexuell" und verwandte statt dessen Begriffe wie "humanitär", "homoerotisch" oder "homophil". Die neue Bewegung adaptierte dagegen für sich das Wort "schwul", das bis dahin als Schimpfwort am meisten weh getan hatte. "Wir wollen die schwulen Säue sein, die wir sind", wurde die Losung.

Nach der Liberalisierung des § 175 StGB entstand sehr schnell eine kommerzielle Subkultur. Der Aufbruch der Schwulenbewegung verzögerte sich dagegen bis 1971/72. Als Initialzündung wirkten zwei Filme von Rosa von Praunheim. Der erste machte hier die Vorgänge in New York unter der Losung bekannt: "Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen." Der zweite Film trug den Titel "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Der Film, dessen Kommentare von Martin Dannecker stammten, war ein direkter Angriff auf die bürgerlichen Schwulen des "Nachseptember", so nannte man die Zeit nach der Reform des § 175 StGB. Der Film warf ihnen vor, dass sie sich in der neuen Subkultur eingerichtet hätten, ohne für ihre "wirkliche" Befreiung zu kämpfen. Als Folge des Films kam es zu zahlreichen Gruppengründungen in der ganzen Bundesrepublik.

Die neuen Schwulengruppen

Die neuen Gruppen fühlten sich der Linken verbunden. Ein Teil von ihnen stand der Sozialliberalen Koalition nahe und verfolgte reformerische Konzepte. Der andere Teil war antikapitalistisch orientiert und kam geradewegs aus der Studentenbewegung und dem 1970 aufgelösten Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Diese Gruppen organisierten sich parallel zu den neu entstehenden Kommunistischen Gruppen, den sogenannten K-Gruppen. Diese antikapitalistisch organisierten Studentengruppen machten zwar den Kapitalismus nicht direkt und allein für die Homosexuellenunterdrückung verantwortlich, sie waren aber der Überzeugung, dass die Unterdrückung von Homosexualität nur ein spezieller Fall der allgemeinen Unterdrückung der Sexualität sei, die der Sicherung der politischen und ökonomischen Macht diene. Typisch dafür ist die Parole auf dem Transparent, dass Martin Dannecker bei der ersten Demonstration im April 1972 in Münster trug: "Brüder und Schwestern, warm oder nicht, Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht".

Die staatlichen Organe versuchten die Arbeit der Gruppen zu behindern. Infostände wurden verboten und das Verbot 1976 vom Bundesverwaltungsgericht abgesegnet. Die Registergerichte lehnten die Eintragung von Gruppen ab, die das Wort "schwul" in ihrem Namen führten. Gegen einige Aktivisten wurden Berufsverbote verhängt. Eine Reihe von Polizeibehörden setzte die Überwachung der Schwulen fort und erfasste sie weiter in "Rosa Listen". Noch 1985 wurde das bundesweite erste Treffen zwecks Gründung des Bundesverbandes Homosexualität von der Kölner Polizei observiert und ein Bericht über das Treffen und über das Impulsreferat von Rüdiger Lautmann erstellt. Im Deutschen Bundestag war das Wort "schwul" bis zum Jahre 1990 verboten.

Der Tuntenstreit

An Pfingsten 1973 kam es aus Anlass eines bundesweiten Treffens zu einer Demonstration, bei der Gäste aus Frankreich und Italien in Frauenkleidern tanzten und tuckten. Dies löste eine Strategiedebatte aus, den sogenannten "Tuntenstreit". Die einen meinten, Solidarität erreiche man nicht mit Provokationen, der Arbeiterklasse sei ein solches Verhalten nicht zu vermitteln. Die anderen waren der Auffassung, angepasstes Demonstrieren sei das alte Anbiedern an das Bürgertum. Der Kampf gelte nicht nur dem Kapitalismus, sondern auch dem Patriarchat. Ziel sei eine Gesellschaft, in der man Unangepasstheit und Perversion ausleben könne.

Der rosa Winkel und die ersten schwule Projekte

Ab Mitte der siebziger Jahre begannen die Gruppen, den "Rosa Winkel", das Kennzeichen für Homosexuelle in den nationalsozialistischen KZ's, als Symbol zu adaptieren. Auch wurden ab diesem Zeitpunkt die ersten schwulen Projekte gegründet. Dahinter stand der Wunsch, die gesellschaftliche Veränderung nicht auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben, sondern eine Gegenkultur aufzubauen. Zu nennen sind hier der Verlag "Rosa Winkel", verschiedene Zeitungs- und Theaterprojekte wie die Gruppe "Brühwarm" und die Frankfurter "Maintöchter" und ab 1977 eine Reihe von Schwulencafes in verschiedenen Großstädten. 1978 öffnete in Berlin der erste schwule Buchladen Europas "Prinz Eisenherz" seine Pforten. Diese Projekte lösten bei den Aktionsgruppen immer wieder Diskussionen aus. Der Wunsch, mit seiner Arbeit auch Geld zu verdienen, wurde von ihnen nur allmählich akzeptiert.

Streitpunkt "abweichende Sexualitäten"

Ab etwa 1975 wurde in den Gruppen auch über "abweichende" Sexualitäten diskutiert. Das betraf vor allem die Themen Sadomasochismus und Pädosexualität. Die Lederschwulen mussten sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, krank bzw. faschistoid zu sein. Sie begannen, sich in sogenannten Motorsportclub's (MSCs) zu organisieren. Hinsichtlich der Päderasten kam die Schwulenbewegung zu der Auffassung, dass gewaltfreie Sexualität mit Kindern legalisiert werden sollte und die §§ 174 und 176 StGB gestrichen werden müssten. Diese Forderung wurde schon bald dahin erweitert, dass das gesamte Sexualstrafrecht abgeschafft werden müsste, die strafwürdigen Fälle würden bereits durch die Vorschriften über die Körperverletzung und die Nötigung hinreichend erfasst. Diese Forderung führte 1985 im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf zum sogenannten Kindersexskandal. Anlass war das Arbeitspapier "Sexualität und Herrschaft", das die "Landesarbeitsgruppe Schwule und Päderasten" der Grünen vorgelegt hatte und das entsprechende Forderungen enthielt.

Für die Haltung der Schwulenbewegung zur Frage der Pädosexualität waren nach meinem Eindruck folgende Gesichtspunkte maßgebend:

  • Man wollte keine wegen ihrer "abweichenden" Sexualität verfolgte Gruppe den "Herrschenden" ausliefern.
     
  • In der Diskussion meldeten sich nur solche Schwule zu Wort, die von positiven sexuellen Erfahrungen in frühester Jugend mit erwachsenen Männern berichteten. Damals erlebten die meisten Schwulen ihr Coming Out erst sehr spät. Sie hatten deshalb das Gefühl, die besten Jahre versäumt zu haben und träumten davon, wie viel besser ihr Leben verlaufen wäre, wenn ein älterer Mann sie schon früher "aufgeweckt" hätte.
     
  • Die Frauen begannen ihre vielfachen Gewalterfahrungen in den Familien erst ab 1980 zu formulieren. In diesem Jahr stellten Alice Schwarzer und Günter Amendt in der "Emma" und in "Sexualität konkret" fest, dass sexuelle Beziehungen mit Kindern unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht gewaltfrei sein könnten. Die Diskussion hierüber war von Anfang an sehr emotional belastet und führte zu einer tiefgreifenden Entfremdung zwischen der Frauen- und der Schwulenbewegung.

Heute grenzen sich fast alle Schwulengruppen von den Pädos ab, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie sonst "geächtet" werden und politisch nichts mehr ausrichten können. Die "Pädofrage" wird von den Gruppen nicht mehr diskutiert.

Arbeit in den gesellschaftlichen Institutionen

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre begann auch die Arbeit in den gesellschaftlichen Institutionen. Zu nennen sind hier insbesondere:

  • Das "Forum Homosexualität und Sozialwissenschaft", das 1977 das sehr wichtige Buch "Seminar: Gesellschaft und Homosexualität" vorlegte. Sein Herausgeber war Rüdiger Lautmann.
  • Die "ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) e. V.", die 1977 gegründet wurde.
  • Der "Homosexuellenarbeitskreis in der ÖTV", der von der ÖTV 1978 anerkannt wurde.
  • Die "Schwulen Lehrer", die sich seit 1980 bundesweit treffen.
  • Die "Schwulen Ärzte" bzw. die "Schwulen im Gesundheitswesen" und
  • die "Schwulen Juristen", die sich ebenfalls seit Ende der siebziger Jahre regelmäßig bundesweit treffen.
  • Die "Schwulen Jungdemokraten",
  • die "Schwusos" und
  • die "Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule und Lesben bei den Grünen".

Die 1980 gegründeten Grünen hatten sich von Anfang an mit den Schwulen und Lesben solidarisiert. Das war einer der Gründe für den Austritt der Gruppe um den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Gruhl. Die Grünen waren auch die ersten, die bei Landtags- und Bundestagswahlen offen schwule und lesbische Kandidaten aufstellten. Als Mitte der achtziger Jahre Herbert Rusche als erster offen schwuler Bundestagsabgeordneter über die Liste der Grünen in den Bundestag einzog, weigerte sich damals ein Teil der beim Fahrdienst des Bundestages beschäftigten Fahrer, Rusche zu fahren, und einige Abgeordnete bestanden darauf, nicht mit Rusche in einem Auto fahren zu müssen.

Die ersten CSD-Demonstrationen und die Diskussion über ein Antidiskriminierungsgesetz

Ab 1979 wurden bei uns die ersten CSD-Demonstrationen durchgeführt und im Juli 1979 fand in Frankfurt eine Woche lang unter dem Namen "Homolulu" ein großes Schwulentreffen statt. Auf der Abschlusskundgebung wurde auch ein Antidiskriminierungsgesetz gefordert. In den entsprechenden Entwürfen waren die wesentlichen Forderungen der Schwulenbewegung zusammen gefasst:

  • Aufnahme des Benachteiligungsverbots wegen der sexuellen Orientierung in Art. 3 Abs. 3 GG,
  • die Streichung der §§ 174, 175 und 176 StGB bzw. die Abschaffung des Sexualstrafrechts insgesamt,
  • Wiedergutmachungszahlungen für die schwulen KZ-Opfer,
  • staatliche Förderung der Schwulenzentren und Beratungsstellen,
  • Verbot medizinischer Maßnahmen zur Änderung der sexuellen Orientierung,
  • Änderung des Adoptions- und Erbrechts zugunsten von Schwulen und Lesben,
  • Änderung der Rahmenrichtlinien für den Sexualkundeunterricht,
  • Sitze im Rundfunk- und Fernsehrat.

Das Desaster in der Bonner Beethovenhalle

Diese Antidiskriminierungspolitik wurde von den Radikalen heftig kritisiert. Sie forderten statt einer "Stabilisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft" durch Integration der Homosexuellen "radikale Gegenentwürfe" zur heterosexuellen Gesellschaft. Der Streit eskalierte auf der zentralen Podiumsdiskussion mit Parteivertretern aus Anlass der Bundestagswahl 1980 in der Bonner Beethovenhalle. Die Veranstaltung wurde durch die Radikalen mit Trillerpfeifen gesprengt. Dabei tat sich vor allem die Nürnberger "Indianerkommune" hervor, ein Zusammenschluss von Pädosexuellen und Kindern. Sie waren damals und in den folgenden Jahren der Schrecken aller Veranstalter, weil sie deren Scheu, die Polizei gegen "Andersdenkende" zu Hilfe zu rufen, hemmungslos ausnutzten.

Trotz des Desaster in der Bonner Beethovenhalle ging die Entwicklung weiter. So entstanden in den achtziger Jahren abseits der vorhandenen Schwulengruppen immer mehr Schüler- und Jugendgruppen als "Coming-Out-Gruppen" und neue Freizeitgruppen, vor allem Sportvereine und Chöre. Sie wurden wie üblich zunächst behindert. Gegen die Schüler- und Jugendgruppen wurde der Jugendschutz ins Feld geführt und ihnen die Aufnahme in die Stadtjugendringe verweigert. Ähnlich reagierte ein Teil der Dachorganisationen der Sportvereine und Chöre. Das bedeutete für diese Gruppen eine erhebliche Behinderung, weil über die Stadtjugendringe und die Dachvereine die öffentlichen Mittel zugeteilt werden und die Benutzung der öffentlichen Sporthallen und Sportplätze geregelt wird.

AIDS

Sehr wesentlich für die Schwulenbewegung wurde in den achtziger Jahren das Aufkommen von AIDS. Während sich die Schwulengruppen in der Wörner/Kießling-Affaire 1984 überhaupt nicht zu Wort gemeldet hatten, beteiligten sie sich von Anfang an sehr intensiv an der AIDS-Debatte und gründeten schon früh überall AIDS-Hilfen. Das führte für viele schwule Männer zu einem "Coming Public" und zu einem neuen Selbstbewusstsein. Gleichzeitig gewöhnten sich die Verwaltungen daran, mit Männern über Zuschüsse und gemeinsame Veranstaltungen zu verhandeln, die offen als Schwule auftraten. Wie sehr die Schwulen die Diskussion damals mit beeinflusst haben, kann man z.B. daran ermessen, dass von den acht Sachverständigen, die 1987 in die Enquete-Kommission "AIDS" des Deutschen Bundestages berufen wurden, die Hälfte homosexuell war.

Der Bundesverband Homosexualität

Mitte der achtziger Jahre versuchte man, die seit dem Desaster in der Bonner Beethovenhalle verlorengegangene bundesweite Diskussions- und Aktionsebene neu zu installieren. Dies führte 1986 zur Gründung des "Bundesverbandes Homosexualität (BVH) e. V". Er scheiterte letztlich daran, dass bei seiner Gründung die Gegensätze zwischen Radikalen und Reformern nicht ausgetragen wurden. Das zeigte sich Ende der achtziger Jahre, als die Reformer dafür eintraten, neben den traditionellen Forderungen der Schwulenbewegung nun auch die "Homo-Ehe" zu fordern. Die Reformer konnten sich damit im Bundesverband Homosexualität nicht durchsetzen und verließen ihn 1990. Sie schlössen sich dem in Leipzig neu gegründeten "Schwulenverband in Deutschland (SVD)" an. Dieser war aus den Schwulengruppen der DDR hervorgegangen, die sich als Teil der Bürgerrechtsbewegung der DDR verstanden. Für sie bedeutete deshalb politische Arbeit die Einforderung von Menschen- und Bürgerrechten. Dagegen hatte es bei ihnen nie grundsätzliche Auseinandersetzungen über den richtigen schwulen Lebensstil gegeben.
Deshalb war es für den Schwulenverband selbstverständlich, sich die Forderung nach der "Homo-Ehe" zu eigen zu machen und sie mit Nachdruck zu vertreten.
Mit diesem Programm war der Schwulenverband sehr erfolgreich. Ihm ist es gelungen, der Öffentlichkeit die Lebensprobleme der Schwulen zu vermitteln und die Zustimmungsrate zum Abbau der Diskriminierungen immer mehr zu steigern. Außerdem konnte er mit dieser Politik einen Teil der Lesben für sich gewinnen und hat sich deshalb Anfang diesen Jahres zum Lesben- und Schwulenverband erweitert. Der "Bundesverband Homosexualität" hat sich dagegen 1996 selbst aufgelöst.

Als Ergebnis der Jahren Schwulenbewegung in der alten Bundesrepublik kann man deshalb feststellen: Die Schwulenbewegung hat sich von einer Studentenbewegung zu einer Bürgerrechtsbewegung gewandelt. Sie hat ihren ideologischen Ballast abgeworfen und konzentriert sich jetzt auf Reformprojekte. Sie hat sich in viele Gruppen und Projekte breit ausgefächert, und ihr ist es gelungen, die Zustimmung der Öffentlichkeit zu ihren Anliegen zu gewinnen. Die Schwulenhasser äußern sich heute nicht mehr offen, sondern maskieren sich als Verteidiger von "Ehe und Familie" und ähnlichem.
 


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